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Wir werden umlernen - sei es durch Schocks

Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel über sein Buch "Exit.Wohlstand ohne Wachstum".

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS): Herr Miegel, der Titel Ihres neuen Buches Exit kann positiv als Ausstieg verstanden werden, hat aber auch diesen negativen Beigeschmack des Abgangs, des Endes.

Meinhard Miegel: Beides ist gemeint: Ausstieg und Ende. Eine historische Phase, die mit der Industrialisierung begann, hat in den hoch entwickelten Ländern ihren Zenit überschritten und nähert sich nun ihrem Ende. Doch ich habe die Hoffnung, dass danach eine Phase kommt, die menschengemäßer und erfüllender sein wird, als das, was wir hinter uns haben.

FAS: Was haben wir denn hinter uns?

Meinhard Miegel: Eine weitgehende  Fokussierung auf Wirtschaftswachstum und materielle Wohlstandsmehrung. Sinnfragen wurden fast ausschließlich mit Materiellem beantwortet. Das hat viele geistig und kulturell verarmen lassen.

FAS: Das klingt nicht gerade neu. Es erinnert an alternative Kultur und postmaterialistische Gesellschaft.

Meinhard Miegel: Das Thema ist nicht neu, aber aktuell. Und anders als in den siebziger Jahren sage ich nicht: Leute, denkt um und beginnt ein neues Leben. Vielmehr sage ich: Ob Wirtschaftswachstum und materielle Wohlstandsmehrung wünschenswert sind oder nicht - wir in den reichen Ländern werden sie künftig nicht mehr haben. Stellt euch darauf ein und werdet dadurch nicht unglücklich.

FAS: Die gegenwärtige Schuldenorgie verlässt sich auf Wachstum. Wie wollen Sie da durchdringen?

Meinhard Miegel: Diese Schuldenorgie ist ein nochmaliges Aufbäumen auf dem abschüssigen Wachstumspfad. Doch die meisten Beteiligten wissen, dass der Trend dadurch nicht gewendet wird. Nicht ohne Grund heißt es in der ersten Regierungserklärung - nachdem seitenlang das Wachstum beschworen wird - wir müssten in diesem Jahrzehnt eine Wirtschaftsform finden, die nicht ihre eigenen Grundlagen zerstört.

FAS: Geht es noch darum, auf verschiedenen Feldern an Stellschrauben zu drehen? Oder braucht es einen radikalen Wandel?

Meinhard Miegel: Wir müssen lernen, ohne die ständige Mehrung materieller Güter, steigende Einkommen und Renten zufriedene Leben zu führen. Für viele ist das ungewohnt. Aber es hilft nichts. Schon das Wachstum der zurückliegenden 30 Jahre war künstlich aufgebläht. Werden die immensen öffentlichen Schulden und die Schäden herausgerechnet, die durch dieses Wachstum verursacht wurden, bleibt unter dem Strich nicht viel.

FAS: Die Osterinsulaner haben den letzten Baum abgeholzt und damit ihre eigene Zivilisation beendet. Sind wir klüger als sie?

Meinhard Miegel: Das lässt sich noch nicht sagen. In der Geschichte gibt es jedoch durchaus Beispiele, in denen Gesellschaften ihre Sicht- und Verhaltensweisen so gründlich verändert haben, dass sie gut weiterleben konnten. Denken Sie im europäischen Kulturraum an Reformation und Aufklärung. Vielleicht gelingt uns ja Ähnliches. Aber zunächst müssen wir die Zeche für die gehabte Party begleichen.

FAS: Für die beispiellose Selbstermächtigung des Individuums?

Meinhard Miegel: Für den rücksichtslosen Verbrauch von Umwelt und Natur, für den Verschleiß von Mensch und Gesellschaft.

FAS: Lässt sich der moderne Mensch wieder einfangen?

Meinhard Miegel: Er wird wieder eingefangen werden und zwar schmerzlicher als sich das viele heute vorstellen können. Die bislang unsäglich langmütige Natur fängt an, zurück zu schlagen.

FAS: Unser Traum von der Allmacht ist nicht ausgeträumt, wie die Stammzelldebatte zeigt oder der Wille zur Selbstoptimierung. Glauben Sie, dass wir an einem Wendepunkt angelangt sind?

Meinhard Miegel: Vielleicht nicht an einem Wendepunkt. Aber wir stoßen in immer rascherer Folge an Grenzen. Warum hat sich die Welt in Kopenhagen getroffen? Vor zehn Jahren hätte sie das nicht getan.

FAS: Den Klimagipfel in Kopenhagen werten Sie als Ausdruck eines globalen Sinneswandels?

Meinhard Miegel: Nicht als Sinneswandel aber als globales Erschrecken oder zumindest als Nachdenklichkeit. Die Menschheit ist sich darin einig: Wir haben ein ziemlich großes Problem. Das ist mehr als nichts.  

FAS: In Kopenhagen wurde aber doch ein traditionelles geopolitisches Machtspiel aufgeführt, von Wandel keine Spur?

Meinhard Miegel: Die Aufführung war traditionell, aber das Stück war neu. Es geht um eine Weltbevölkerung, die in großer Geschwindigkeit an Zahl zunimmt und von der große Teile um ihr Existenzminimum ringen. Und es geht darum, die enormen Herausforderungen, die hieraus erwachsen, nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern innerhalb weniger Jahrzehnte zu meistern.

FAS: Was sagen Sie denen, die glauben, dass es ohne Wachstum nicht geht?

Meinhard Miegel: Gewiss brauchen wir zur Lösung dieser Probleme Wachstum, viel Wachstum. Aber dieses Wachstum wird in den heute hoch entwickelten Ländern den materiellen Wohlstand nicht weiter heben. Und offensichtlich muss weltweit noch viel intelligenter, effizienter und effektiver gewirtschaftet werden als bisher. Meinetwegen nennen wir das qualitatives Wachstum. Nur wird auch diese Art von Wachstum nicht auf den bisher verfolgten Pfad zurückführen.

FAS: Müssen wir mehr Rücksicht auf die Natur nehmen?

Meinhard Miegel: Ja, ganz sicher. Viel zu lange wurde der Vorstellung gehuldigt, die Natur müsse besiegt werden. Sie wurde behandelt wie ein Feind. Menschen früherer Epochen war ein solches Denken fremd. Erst im 19. Jahrhundert begannen sie, auf alle Berge zu klettern und in jedem Winkel der Erde herum zu stöbern. Heute liegt die Natur ziemlich nackt vor uns. Wir haben sie ausgeforscht und ihr viele ihrer Geheimnisse entlockt. Künftig muss das Verhältnis von Mensch und Natur partnerschaftlich sein. Der Mensch sollte nicht länger versuchen, sie zu beherrschen. In den hoch entwickelten Ländern hat dieses Denken bereits eingesetzt. Hier sind durchaus Verbesserungen zu verzeichnen. Global hat sich die Situation allerdings dramatisch verschlechtert.

FAS: Worin liegt die Lösung?

Meinhard Miegel: Für so genannte Wertkonservative hatte die Bewahrung der Natur stets einen hohen Stellenwert. Noch in den 1950er Jahren reisten Kohlebarone aus dem Ruhrgebiet in den Schwarzwald, um nachzuschauen, ob dessen Wasserhaushalt in Ordnung war. Denn dieses Wasser wurde rheinabwärts gebraucht. Ganzheitliches Denken würde dies wohl heute genannt werden. In Ländern wie Deutschland bemühen wir uns inzwischen wieder darum. Aber große Teile der Weltbevölkerung marschieren vorerst noch in die entgegengesetzte Richtung. Die Chinesen erleben gerade, wohin das führt. Der beunruhigende Befund ist: Noch liegen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz miteinander im Clinch.

FAS: In welcher Verfassung sehen Sie unsere Gesellschaft?

Meinhard Miegel: Wirtschaftlich ist unsere Gesellschaft stärker denn je. Ihre soziale Belastbarkeit hat jedoch abgenommen. In dieser Hinsicht ist sie heute fragiler als früher. Ihr Zusammenhalt ist in erheblichem Maße staatlich verordnet. Er ist abnehmend naturwüchsig. Diese Entwicklung muss zu denken geben.

FAS: Befassen wir uns nicht zu sehr mit dem Sozialen, so dass wir für andere große Themen gar keine Ressourcen mehr haben?

Meinhard Miegel: Fakt ist, dass sich der soziale Bundesstaat des Grundgesetzes im Laufe der Zeit zu einem föderalen Sozialstaat gewandelt hat, der die Mittel und Kräfte dieses Gemeinwesens entsprechend einsetzt, eben für Soziales. Dass darunter wenig Zukunftsweisendes ist, liegt auf der Hand. Der größte Teil dient der Vergangenheitsbewältigung. Die Folge: Die großen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, werden nur gebrochen wahrgenommen. Im Vordergrund stehen Rentengarantien, die Höhe von Hartz-IV und ähnliches. Zukunft gewinnt man auf diese Weise nicht. Aber ich bin auch hier zuversichtlich: Wir werden umlernen und sei es durch Schocks.

FAS: Wie wichtig ist dabei Solidarität?

Meinhard Miegel: Enorm wichtig: Denn der Verteilungskuchen wird ja kleiner. Wenn da einige versuchen sollten, ihre Stücke beizubehalten und die anderen mit Brosamen abzuspeisen, sind soziale Unruhen programmiert. Nein, diese Veränderung lässt sich konfliktfrei nur solidarisch lösen und das heißt: Alle nehmen Abstriche hin.

FAS: Sind wir zu egoistisch?

Meinhard Miegel: Noch sind es viele. Aber Menschen sind lernfähig. Eine verarmte gesellschaftliche Unterschicht ist für alle eine große Belastung. Eine befriedete Gesellschaft, in der Menschen nachts sicher nach Hause gehen können und nicht in jeder Ecke ein Bettler sitzt, ist ein kostbares Gut und eine große kulturelle Leistung.

FAS: Leidet unsere Gesellschaft darunter, dass die Politik sich zu sehr auf die Ränder konzentriert?

Meinhard Miegel: Ohne Zweifel. Gesellschaft muss aus ihrer Mitte heraus und nicht von ihren Rändern her gedacht und gestaltet werden. Diese elementare Einsicht wurde jahrzehntelang hintangestellt, weil die Politik glaubte, die Mitte der Gesellschaft sei ein Selbstläufer. Und in gewisser Weise war sie das ja auch. Ihre Einkommen stiegen, sie baute sich ihre Häuschen und fuhr in den Urlaub. Da genügte es, den schwächsten Bevölkerungsschichten unter die Arme zu greifen. Diese rückten in den Mittelpunkt politischer Aufmerksamkeit. Künftig ist es damit jedoch nicht mehr getan. Um die Gesellschaft als Ganzes lebens- und zukunftsfähig zu erhalten, muss die Politik ihre Blickrichtung ändern. Künftig lässt sich Gesellschaft nicht mehr vom Rand her steuern. Das geht nur aus ihrer Mitte heraus.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21. Februar 2010

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