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Genuss ist kein Luxus

DLG-Test: Welchen Beitrag kann eine veränderte Ess- und Trinkkultur leisten, um Verluste beim materiellen Wohlstand zu kompensieren?

Stefanie Wahl: Essen und Trinken sind nicht nur lebenserhaltend, sondern auch wichtige Quellen immateriellen Wohlstands. Sie bringen Spaß und Genuss, stiften Gemeinschaft und kulturelle Identität, geben Raum für kreative und künstlerische Betätigung, ermöglichen kulturelle Vielfalt und anderes mehr. Folglich können Lebensmittel durch die Art und Weise, wie sie produziert, zubereitet und verzehrt werden, die Lebensqualität und -zufriedenheit erhöhen und damit materielle Wohlstandsverluste zumindest teilweise ausgleichen.

Mit den gegenwärtigen Ernährungs- und Essgewohnheiten kann dies allerdings nicht gelingen. Per Saldo führen diese langfristig zu immateriellen Wohlstandsverlusten statt -gewinnen. Die meisten Menschen essen zu süß, zu fett, zu fleischreich, undiszipliniert, unter Zeitdruck, unreflektiert und häufig alleine. Die Folgen sind u.a. zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigungen und Umweltschäden, die die voraussichtlichen materiellen Wohlstandsverluste noch vergrößern.

Um sowohl immaterielle Wohlstandsgewinne zu erzielen als auch materielle Wohlstandsverluste zu vermeiden, müssen Essen und Trinken nicht nur gut schmecken, sondern auch Gesundheit und Gemeinschaft fördern sowie gut in den Alltag integrierbar, ökologisch nachhaltig, sozial fair und ethisch verantwortlich sein.

DLG-Test: Welchen Wert hat der Genussaspekt von Lebensmitteln bei Verbrauchern?

Stefanie Wahl: Untersuchungen zufolge steht gutes Essen in der Genusshierarchie der Deutschen nach Urlaub, Sex und Familienleben an vierter Stelle. Bei über 35-Jährigen rückt es sogar auf die dritte Position. Häufig wird aber gerade um des kurzfristigen Genusses willen ungesund gegessen. Deshalb müssen möglichst viele Menschen die Erfahrung machen, dass beispielsweise saisonale gemüsereiche Ernährung gut schmecken und folglich genussvoll sein kann. Viel Genusspotential enthält auch die Art und Weise, wie wir Lebensmittel verzehren. Zu einem genussreichen Essen gehören auch ein schön gedeckter Tisch oder hübsch angerichtete Speisen und vor allem Zeit. Genuss ist kein Luxus.

DLG-Test: Womit können Sicht- und Verhaltensweisen im Sinne einer neuen Esskultur verändert werden?

Stefanie Wahl: Hier gibt es eine Vielzahl von Maßnahmen, die sowohl von den Nachfragern als auch von den Anbietern von Lebensmitteln sowie der Politik ergriffen werden müssen. An der Spitze stehen eine höhere Wertschätzung der Ernährung und ein bewussterer Umgang mit Lebensmitteln. Gesunde, umweltverträglich und artgerecht produzierte Lebensmittel können weder in der ganzen Palette ständig verfügbar noch grenzenlos billig sein. Voraussetzungen für einen bewussteren Umgang sind sowohl mehr Wissen und Kompetenzen bei den Verbrauchern als auch mehr Aufklärung und Transparenz bei den Lebensmittelanbietern. Auch die Politik ist gefordert. Ihre Aufgaben reichen beispielsweise vom Verbot irreführender Werbung und Produktkennzeichnung über die gezielte Förderung nachhaltiger Produktionsweisen bis zur Schaffung eines europäischen Zertifizierungs- und Produktkennzeichnungssystems.  

DLG-Test: Könnten dabei Qualitätssiegel hilfreich sein?

Stefanie Wahl: Gegenwärtig gibt es etwa 1000 Güte- oder Qualitätssiegel, die der Verbraucher unmöglich im Einzelnen durchschauen kann. Deshalb plädiere ich für ein verbindliches Kennzeichnungssystem auf europäischer Ebene, das den Verbraucher sowohl über Nährwert als auch Herkunft, Umweltverbrauch und soziale Aspekte wie fair trade informiert.

DLG-Test Lebensmittel, 01/2010