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2015 - das Jahr der finalen Krise

Wachstum hebt den Wohlstand nicht. Wir müssen auf das Niveau unserer wirklichen Leistungsfähigkeit zurücksinken, sonst droht die nächste Krise - dann wackeln nicht nur Banken und Unternehmen, sondern ganze Staaten.

FAZ: Alle reden von der Krise, Sie nicht.

Meinhard Miegel: Weil der Begriff Krise negativ besetzt ist. Ich aber sehe in der gegenwärtigen Entwicklung viel Positives. Hinter uns liegt eine Phase, in der sich viele verhalten haben wie Drogensüchtige. Jetzt haben wir die Chance, aus dem Sumpf heraus zu kommen.

FAZ: Was war die Droge?

Meinhard Miegel: Wachstum, Wachstum um jeden Preis. Und da echtes, solides Wachstum vielen nicht reichte, wurden riesige Schaumberge geschlagen. Jetzt platzen die Bläschen und der Berg fällt wieder in sich zusammen. Aber keine Angst. Das bringt uns nicht ins Armenhaus. Wir werden nur auf das Niveau gebracht, das unserer eigentlichen Leistungskraft entspricht.

FAZ: Seit wann besteht denn diese Sucht?

Meinhard Miegel: Seit langem. Aber richtig beängstigend wird sie Ende der siebziger Jahre. Die Börsenkurse sind ein Indiz dafür. Jahrzehntelang verliefen sie ganz ruhig. Dann aber fingen sie an fiebrig und schließlich irrsinnig zu werden. Was in den vergangenen zehn Jahren geschehen ist, hat mit solidem Wirtschaften nichts mehr zu tun.

FAZ: Und jetzt?

Meinhard Miegel: Jetzt wird mit enormen Steuermitteln der nächste Schaumberg geschlagen. Was da getrieben wird ist doch nicht mehr normal. Wir sollten uns als Gesellschaft, vielleicht sogar als Menschheit eingestehen: Wir haben uns übernommen. Die Versorgungs- und Entsorgungskapazitäten der Erde reichen nicht aus, um einer vorerst weiter explodierenden Weltbevölkerung den angestrebten Lebensstandard zu ermöglichen. Wir sind hier Opfer einer Ideologie immerwährender wirtschaftlicher Wachstumsmöglichkeiten.

FAZ: Jetzt klingen Sie wie Franz Alt in den achtziger Jahren.

Meinhard Miegel: Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß jedoch, dass ich mich seit damals dagegen gewehrt habe, mit zum Teil höchst problematischen Mitteln Wachstum anzukurbeln. Damals wie heute hieß es über das politische Spektrum hinweg: Wachstum, Wachstum. Dieser Wachstumswahn ist jetzt mit der Wirklichkeit kollidiert.

FAZ: Aber alle sehen doch Erholung und grüne Sprossen.

Mienhard Miegel: Aber zu welchem Preis? Allein die großen Länder haben für Kredite, Bürgschaften, Rettungsschirme und was weiß ich etwa sieben Billionen Dollar Steuergelder in Aussicht gestellt. Diese Mittel sind doch gar nicht vorhanden. In der ersten Krise dieses Jahrzehnts wackelten Unternehmen. In dieser Krise wackeln Unternehmen und Banken. Und in der nächsten, die jetzt vorbereitet wird, werden Unternehmen, Banken und Staaten wackeln. Dann kann nur noch der liebe Gott Rettungsschirme aufspannen.

FAZ: Diejenigen, die diese Konzepte entwickeln, wirken aber ganz normal.

Meinhard Miegel: Ideologen wirken meistens ganz normal. Schauen Sie, über lange Zeit glaubten Menschen, sie könnten sich vor ihren Sünden freikaufen. Da legte dann die brave Bauersfrau Münze auf Münze, um durch einen Ablassbrief ihren verstorbenen Mann aus dem Fegefeuer zu holen. Das war auch so eine Ideologie. Aber alle Beteiligten wirkten durchaus normal.

FAZ: Wie würden sie diese Ideologie beschreiben?

Meinhard Miegel: "Ohne Wachstum ist alles nichts" - so nachzulesen in einem jüngeren Grundsatzpapier der CDU. Das muss man sich einmal vorstellen. Das ganze Wohl und Wehe der Gesellschaft wird hier an etwas gehängt, was niemand gewährleisten kann: Erwerbsarbeit, soziale Sicherheit, ausgeglichene öffentliche Haushalte, selbst die Demokratie. Nichts funktioniert ohne Wachstum. Ein wirkliches tollkühnes Konzept.

FAZ: Dann ist die Krise für Sie ein heilsamer Schock?

Meinhard Miegel: Eine überfällige Ent-täuschung. Hinter uns liegt eine Phase des Rausches. Was dringend gebraucht wird, ist Bodenhaftung. Wie manche Unternehmen, Banken und Staaten gewirtschaftet haben, konnte nicht gut gehen. Sie mussten in den Schuldenbergen stecken bleiben, die sie seit Jahren vor sich her schieben. Die künstliche Aufschäumung der Geldmenge sprengt jedes Vorstellungsvermögen. In den zurückliegenden 30 Jahren hat sich die globale Geldmenge schätzungsweise vervierzigfacht, die Gütermenge aber nur vervierfacht. Wohin mit dem gigantischen Geldüberhang?

FAZ: Viele sehen aber in der Krise ein Gerechtigkeitsproblem: Wenige haben einige Jahre sehr gut verdient, nun müssen alle Schulden aufnehmen.

Meinhard Miegel: Das ist auch ein Problem, obwohl die Zusammenhänge oft arg verkürzt dargestellt werden. Denn verloren haben ja zunächst einmal die Vermögensbesitzer, die zugleich in aller Regel weit überproportional die Steuerlasten zu stemmen haben. Aber wie gesagt: ein Problem bleibt.

FAZ: Das Wachstum der letzten Dekaden hat für Sie aber auch eine andere Qualität als das Wachstum in den ersten Jahrzehnten der Republik?

Meinhard Miegel: Ja, es ist kaum noch wohlstandsmehrend. Erkrankungen, kaputte Familien, Autounfälle, Unwetter - das alles fördert das Wachstum, hebt aber nicht den Wohlstand. Und genau das ist die Art von Wachstum, die seit geraumer Zeit dominiert. Überall  muss repariert werden: mehr Kranke, unterstützungsbedürftige Kinder usw. Was heute Wohlstandsmehrung genannt wird, ist zunehmend nur der Versuch, Schäden zu beseitigen, die bei einem solideren Wachstum überhaupt nicht aufgetreten wären.

FAZ: Wollen sie darauf hinaus, dass Geld nicht glücklich macht?

Meinhard Miegel: Bis zu einem bestimmten Punkt macht es schon glücklich. Menschen, die Not leiden, werden deutlich glücklicher, wenn diese gelindert oder sogar überwunden wird. Doch es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass immer mehr Geld immer glücklicher mache. Die materiellen Bedürfnisse von Menschen sind endlich und lassen sich durchaus befriedigen. Was dann kommt sind Ansehen, Macht und dergleichen. Da wird es schon schwieriger. Übrigens hat ein Mann wie Ludwig Erhard das genau erkannt als er bereits in den Sechzigern erklärte, die materielle Wohlstandsmehrung dürfe nun nicht mehr im Vordergrund stehen.

FAZ: Die Grünen predigen das seit je.

Meinhard Miegel: Teils teils. Es gibt auch unter ihnen ziemliche Wachstumsfetischisten.

FAZ: Aber was kommt nach dieser Ideologie, was kommt nach dem Geld?

Meinhard Miegel: Da hat unsere Gesellschaft unglücklicherweise nicht viel zu bieten! Fragt man, was macht dich zufriedener, ein Auto oder die Fähigkeit, eine Fremdsprache zu sprechen, dann sagen die meisten: die Fremdsprache. Das gilt auch im Vergleich: große Wohnung oder Fähigkeit, ein Instrument zu spielen. Das Instrument macht zufriedener. Doch aufgrund unserer Ideologie verschaffen derartige Fähigkeiten weit weniger gesellschaftliches Ansehen als große Wohnungen oder dicke Autos. Und das ist die Crux. Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach Ansehen, nach Anerkennung. Lässt sich das eher durch Materielles erlangen, dann streben sie eben danach und setzen so einen Teufelskreis in Gang.

FAZ: Das könnte sich doch durch die Krise wieder ändern?

Meinhard Miegel: Das wäre schön. Aber wenn ich die mitunter geradezu hysterischen Reaktionen auf den wirtschaftlichen Rückgang sehe, bin ich wenig hoffnungsfroh. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn das Wirtschaftsvolumen in Deutschland auf das Niveau von 2005 zurückgeht? Das waren doch wirklich keine Elendszeiten. Nein, unsere Gesellschaftlich ist dermaßen auf Wachstum getrimmt, dass selbst bescheidene Rückschritte als Katastrophe empfunden werden. Ich fürchte, viele sind nicht mehr krisentauglich.

FAZ: Und doch wollen fast alle Verantwortlichen möglichst schnell weitermachen wie vorher.

Meinhard Miegel: Eben deshalb. Sie wollen nicht die herrschende Ideologie aufgeben, was ja auch schwer ist. Da haben sie jahrzehntelang Wachstum gepredigt und sollen nun erklären, sollte es ausbleiben, wäre das auch nicht weiter schlimm. Ich komme zurück auf den Ablasshändler. Der soll eines Tages der Bäuerin sagen, behalte dein Geld. Für deinen verstorbenen Mann macht es keinen Unterschied, ob du meinen Brief kaufst oder nicht. So etwas erfordert sehr viel Charakter.

FAZ: Das könnte folglich die Stunde der Kultur sein.

Meinhard Miegel: Unbedingt. Zur Zeit sind wir eine völlig durchmonetarisierte, auf Wachstum fokussierte Gesellschaft. Alles andere ist dem untergeordnet. Zum Teil hat das beinahe manische Züge angenommen, z.B. wenn die Familienministerin sinngemäß erklärt, eine nachhaltige Familienpolitik stärke das wirtschaftliche Wachstum und steigere die dringend benötigten Renditen. Oder wenn die Bedeutung des Sports nach dessen Beitrag zum BIP bewertet wird. Ähnliches lässt sich für die Bereiche Bildung und Kunst sagen. Immer wieder heißt es: Was bringen sie für die Mehrung unseres materiellen Wohlstands? Irgendwie ist es wie im Mittelalter. Nur dass damals alles im Dienste der Theologie stand. Jetzt steht es im Dienste des Wachstums.

FAZ: Sehen Sie denn Länder, in denen diese Ideologie weniger ausgeprägt ist?

Meinhard Miegel: Es gibt allenfalls graduelle Unterschiede. Selbst das sozialistische Lager war ja wachstumsbesessen. In ihrem zentralen Glücks- und Heilsversprechen unterscheiden sich Kapitalismus und Sozialismus kaum: der Schaffung von Reichen materiellen Überflusses. Die Tragik des Sozialismus war, dass er bei der Einlösung dieses Versprechens kläglich versagte. Der Kapitalismus war ungleich erfolgreicher, stößt aber jetzt ebenfalls an Grenzen.

FAZ: Wie geht es weiter?

Meinhard Miegel: Die Schnitzel auf den Tellern werden kleiner. Vielleicht genießen wir sie aber nicht zuletzt deshalb umso mehr. Die allermeisten können doch auf vieles verzichten, ohne es auch nur zu bemerken. Da muss dann eben einmal eine Modesaison oder eine Handygeneration übersprungen werden. Was macht das schon?

FAZ: Wie wollen Sie denn ihre Botschaft vom Ende der Wachstumsideologie unter die Leute bringen?

Meinhard Miegel: Das besorgt die Wirklichkeit. Sie hat den Menschen mittlerweile vermittelt: Wie bisher geht es nicht weiter.

FAZ: Vielleicht rührt daher die Angst, gegenwärtig?

Meinhard Miegel: Nicht Angst, aber Unsicherheit. Zu wissen: Wie bisher geht es nicht weiter ist das eine. Aber wie soll, wie wird es weitergehen? Das ist das andere. Und auf diese Frage haben alle Parteien im Kern wieder nur die Antwort: durch Wachstum. Das ist nicht genug. So viel Ideenarmut verunsichert.

FAZ: Nun werden ja erst einmal die Arbeitslosenzahlen steigen.

Meinhard Miegel: Leider. Weil mir immer noch nicht gelernt haben, eine befriedigende Beschäftigungslage auch unter Bedingungen wirtschaftlichen Stillstands oder wirtschaftlicher Schrumpfung zu gewährleisten. Wie soll das eigentlich weitergehen? Brauchen wir auch noch während der nächsten hundert Jahre zwei Prozent Wachstum zur Aufrechterhaltung der Beschäftigung? Dann müsste in nicht so ferner Zukunft das Siebenfache des Heutigen erwirtschaftet werden. Das kann doch nicht Grundlage einer nachhaltigen Politik sein. Das sind doch Hirngespinste.

FAZ: Können Sie denn mal ein Beispiel für den von ihnen avisierten Wandel im Lebensstil nennen?

Meinhard Miegel: Ein Beispiel sind unsere Städte. Sie sind getrimmt auf Produktion, Konsum und Transport. Das alles ist wichtig, aber nicht annähernd genug. Stadt muss in erster Linie Lebensraum sein, ein Raum, in dem sich Menschen wohl fühlen, sich entfalten, miteinander kommunizieren können. Eine Stadt muss öffentliche Räume bieten, in denen sich Menschen gerne aufhalten. Alle schwärmen von den oberitalienischen Städten. So etwas gab es bei uns auch einmal. Es wurde ersetzt durch Einkaufsstraßen und Shopping-Malls.

FAZ: So dass, wer sich nichts kaufen kann und nicht arbeitet, auch aus der Gemeinschaft ausgegrenzt wird.

Meinhard Miegel: Das ist weithin die schlimme Wirklichkeit. Die Qualität einer Gesellschaft bemisst sich nicht zuletzt an ihrer Fähigkeit, zwischen individueller Wertschätzung und wirtschaftlichem Status zu unterscheiden. Das eine sollte nicht vom anderen abhängen. In früheren Zeiten war man da schon einmal weiter. Kirchen und Kathedralen, der einst größte Luxus, standen allen offen, Fürsten und Bettelleuten. Heute wird ständig gewogen und vermessen und wehe dem, der für zu leicht befunden wird. Im Sport treibt das die absonderlichsten Blüten. Eine hundertstel Sekunde zu langsam - und alles ist aus.

FAZ: Vom Doping ganz zu schweigen.

Meinhard Miegel: Die ganze Gesellschaft ist gedopt. Sie hat längst ihr inneres Gleichgewicht verloren, die Balance zwischen innerem und äußerem Reichtum. Viele vermögen mit "innerem Reichtum" gar nichts mehr anzufangen. Dabei macht er den Menschen erst zum Menschen. Kaninchen und Kühe haben ihn nicht.

FAZ: Das wissen wir nicht genau.

Meinhard Miegel: Gut, jedenfalls halte ich es für unwahrscheinlich. Und ganz sicher haben sie keine Religionen, deren Bestreben es ja ist, die Balance von innerem und äußerem Reichtum aufrecht zu erhalten.

FAZ: Treffen Sie denn in der Politik auf offene Ohren?

Meinhard Miegel: Durchaus. Die Politik ist keineswegs schwerhörig. Nur geht das meiste schrecklich langsam. Das macht mir Sorge. Die Zeit, die uns für Mentalitätsänderungen bleibt, ist kurz.

FAZ: Inwiefern?

Meinhard Miegel: Weil die nächste Herausforderung schon in wenigen Jahren zu bestehen sein wird. Ich schätze um das Jahr 2015. Manche meinen, dann käme so etwas wie ein finaler Crash. Doch final oder nicht final - wir sollten auf wirklich tief greifende Veränderungen vorbereitet sein.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Juni 2009

Interview: Nils Minkmar