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Kleinere Schnitzel

Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel über die Dominanz des Ökonomischen und nötige Alternativen

GELDidee: Den meisten Bundesbürgern geht es gut. Sie halten sich aber mehr und mehr zurück, nicht nur beim Konsum. Sehen die Deutschen zu schnell zu schwarz?

Meinhard Miegel: Ich finde, die meisten Deutschen sehen keineswegs schwarz, sondern verhalten sich bemerkenswert ruhig und gelassen. Nur einige fühlen sich bemüßigt, schrille Töne anzuschlagen. Wenn es beispielsweise heißt, Deutschland stehe vor der schwersten Rezession seit Gründung der Bundesrepublik, dann könnte dies zwar statistisch zutreffend sein, klingt aber dramatischer als es ist. Denn sollte die Wirtschaftsleistung 2009 wirklich um 1,7 oder auch mehr Prozent einbrechen, dann würde hierzulande immer noch so viel erarbeitet wie in den Boomjahren 2007 oder 2006. Für mich ist es unverantwortlich, wenn Menschen, die eben noch vom Boom sprachen, zwölf oder 24 Monate später den gleichen Zustand als Depression bezeichnen. Das erweckt bei Teilen der Bevölkerung Erinnerungen an die Hungerwinter nach dem Zweiten Weltkrieg, von denen wir nun wirklich meilenweit entfernt sind. Den Medien kommt hier große Verantwortung zu.

GELDidee: Das gilt aber auch für viele „Experten", die noch vor einem Jahr den DAX bei über 10000 Punkten gesehen haben.

Meinhard Miegel: Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Viele dieser Prognosen sind bloße Kaffeesatzleserei. Deshalb würde ich es sehr begrüßen, wenn sich diese Experten einmal eine Weile zurückhielten. Darüber hinaus rate ich: Niemand sollte sich verrückt machen lassen, weder von Schwärmern noch von Schwarzmalern. Sie alle kochen doch nur mit Wasser und manchmal mit sehr dünnem.

GELDidee: Würden Sie den Konjunkturexperten Versagen vorwerfen?

Meinhard Miegel: Nicht Versagen. Aber sie erwecken mitunter den Eindruck, Dinge zu wissen, die sie unmöglich wissen können. Niemand kann heute auch nur einigermaßen verlässlich vorhersagen, wie es der Wirtschaft Ende 2009 gehen wird. Ich bin immer wieder erstaunt, zu welcher Genauigkeit sich hier manche Prognostiker hinreißen lassen. Dabei sind kurzfristige Entwicklungen viel schwerer vorherzusagen als langfristige. Und ich bin erstaunt, wie sehr Unternehmer und Politiker auf solche Zahlen setzen, nur um drei Monate später zu erkennen, dass doch alles ganz anders kam.

GELDidee: Ist dies auch ein Grund, warum Sie die „Dominanz des Ökonomischen" in fast allen Lebensbereichen beklagen?

Meinhard Miegel: Mit konjunkturellen Schwankungen hat die von mir beklagte Dominanz des Ökonomischen nichts zu tun. Hier geht es darum, dass unsere Gesellschaft ihr Wohl und Wehe abhängig gemacht hat von permanentem Wirtschaftswachstum und materieller Wohlstandsmehrung. Diese sind jedoch auf Dauer nicht zu gewährleisten. Deshalb sollten weder das Glück des Einzelnen und der Gesellschaft noch Freiheit und Demokratie am seidenen Faden materieller Wohlstandsmehrung hängen.

Wenn es in einem Grundsatzpapier der CDU aus dem Jahr 2004 heißt, ohne Wachstum sei alles nichts, dann ist dies nicht nur eine unbedachte, sondern auch eine gefährliche Aussage.

GELDidee: Deutschlands wirtschaftliche Stärke hat aber doch stets auch große kulturelle Leistungen hervorgebracht, manche sogar erst ermöglicht.

Meinhard Miegel: Das ist völlig unbestritten. Das Problem ist die fast ausschließliche Fokussierung auf Ökonomisches. Solche Fokussierungen sind, wie die Geschichte zeigt, immer schädlich. So gab es Phasen, in denen die Religion das gesamte Leben beherrschte. Zu anderen Zeiten stand das Militär im Mittelpunkt und alles andere wurde dessen Bedürfnissen untergeordnet. Dann wiederum war es die Nation.

Immer wieder wurde zu solchen Zeiten gefragt: Dient dies oder jenes der Religion oder dem Militär oder der Nation? Und heute heißt es: Dient es der Wirtschaft? Schafft es Wachstum und Arbeitsplätze? Die Wissenschaft, die Kunst, der Sport - das alles hat nur dann eine Berechtigung, wenn es für das Wirtschaftswachstum förderlich ist.

GELDidee: Sie sagen, die Menschen sollten materielle Einbußen durch eine Besinnung auf eine neue „Lust auf Kultur" ausgleichen. Verfolgen Sie damit nicht ein Elitenprogramm, das sich nur die finanziell Abgesicherten leisten können?

Meinhard Miegel: Im weltweiten Vergleich gehören wir alle in einem Land wie Deutschland, auch der Hartz-IV-Empfänger, zum wohlhabendsten Fünftel der Menschheit. 85 Prozent der Bevölkerung geht es sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich ausgesprochen gut. Vor diesem Hintergrund sage ich: Das Schnitzel auf dem Teller wird zwar kleiner werden und das dürfte zu Enttäuschungen führen, weil wir größere Schnitzel gewohnt sind. Satt werden wir aber immer noch werden und zwar auch die wirtschaftlich Schwächeren. Wenn aber das Schnitzel kleiner wird, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir es mit größerem Genuss verzehren. Dabei fällt mir auf, dass wirtschaftlich schlechter Gestellte diese Kunst oft besser beherrschen als viele Wohlhabendere, die nach immer mehr materieller Wohlhabenheit streben.

GELDidee: Ob Pisa-Studien, Eliteunis oder Kindererziehung: Wir sind doch stolz darauf, alles zu vermessen. Wie wollen Sie das aus den Köpfen tilgen?

Meinhard Miegel: Das geht nicht von heute auf morgen. Doch sollten wir nicht vergessen, dass Menschen nicht immer so rechenhaft waren wie heute. Diese Rechenhaftigkeit beginnt erst mit der Aufklärung und der nachfolgenden Industrialisierung. Während langer Zeiten haben Menschen anders gedacht als jetzt. Warum sollte ihnen nicht erneut ein Umdenken gelingen?

GELDidee: Weil nicht nur die Menschen, sondern auch die Politiker aller Parteien alles objektiv bewerten wollen.

Meinhard Miegel: Das sollen sie ja auch. Dann aber müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass mittlerweile 59 Prozent der Deutschen mit ihrem erreichten materiellen Wohlstand zufrieden sind und 10 Prozent sogar bereit sind, mit weniger vorlieb zu nehmen. Nur etwa ein Sechstel möchte möglichst weitermachen wie bisher. Das sind nicht eben viele. Die Veränderungsbereitschaft ist groß.

GELDidee: Chinesen und Inder überzeugen Sie damit nicht. Sie wehren sich ja jetzt schon gegen Beschränkungen ihres Wachstums, etwa durch den Klimaschutz.

Meinhard Miegel: Als Chinese oder Inder würde ich das auch tun. Vor allem, wenn ich zur großen Mehrheit gehörte. Diese hungert, hat kein Dach über dem Kopf, kein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem und vieles andere mehr. Bert Brecht hat einmal gesagt: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral." Das ist so. Aber gerade weil die Menschen in den aufstrebenden Ländern um größeren materiellen Wohlstand ringen, wird der unsere abnehmen und zwar deutlich und dauerhaft.

GELDidee, Februar 2009

Interview: Leonard Monde