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Schluss mit der Wohlstandsgaukelei

von Ebba Hagenberg-Miliu

Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel kritisiert in Bonn die auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik

Als verzweifelten Versuch von Politik und Wirtschaft, Wachstum zu simulieren, wo keines mehr sei, wertete am Freitagabend bei einer Tagung der Evangelischen Akademie im Rheinland der Sozialwissenschaftler Professor Meinhard Miegel in Bad Godesberg die Folgen der aktuellen Finanzkrise.

"Unsere wirtschaftsfokussierte Welt glaubt auch jetzt, alle unsere Probleme mit Geld läsen zu können. Dabei lähmen wir uns so nur selbst", erklärte der Vorsitzende des Denkwerks Zukunft - Stiftung kulturelle Erneuerung, Bonn, bei der Tagung "Weil wir wachsen müssen...? Zu materiellen Orientierung in unserer Kultur". Sinngeber wie Religion oder Ideologie funktionierten in der gesamten westlichen Kultur nicht mehr. "Unsere Heilsperspektive heißt wirtschaftliches Wachstum und eine fortwährende Wohlstandsmehrung", so Miegel.

Die Politik verkünde unisono: "Ohne Wachstum ist alles nichts." Was die Bevölkerung in erschreckend hohem Maße verinnerlicht habe. Laut aktuellen Studien glaubten 73 Prozent der Bevölkerung, dass Deutschland ohne angekurbeltes Wachstum nicht überleben könne. Bei bundesweit 31 Prozent, in den östlichen Bundesländern sogar 50 Prozent, münde die Angst, der eigene Wohlstand könne gefährdet sein, sogar in akute Demokratie-Verdrossenheit. Dabei würde ein großer Teil der Bevölkerung eine wei-tere Stagnation oder auch einen Rückgang des Wirtschaftswachstums durchaus verkraften, erklärte Miegel. "Unser Problem in dieser Situation ist also die Aufrechterhaltung und gesellschaftliche Funktions-fähigkeit unserer demokratischen Strukturen."

Wie könne es in einer endlichen Welt überhaupt fortwährendes Wachstum geben, frage der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler. Schon in den 1970er Jahren habe sich die in der Menschheitsgeschichte unvergleichlich rasante wirtschaftliche Entwicklung der letzten 50 Jahre erheblich verlangsamt. Seither seien immer mehr Versorgungsengpässe entstanden. Der westliche Lebensstil der Vergeudung bestrafe sich selbst. Heute seien die Bruttolöhne längst stagniert, die Nettolöhne wie die Kaufkraft der Rentner gesunken. Die Arbeitslosenrate sähe nur durch Anhebung des Billiglohnsektors gut aus. Unsere alternde Gesellschaft werde dagegen mit immer mehr Defiziten bestraft. Miegel legte den Finger auf Bildungsmisere und Wohlstandsverwahrlosung. Man sei an einem Punkt angelangt, an dem ein Paradigmenwechsel stattfinden müsse, forderte Miegel. "Machen wir Schluss mit der permanenten Wohlstandsgaukelei. Was soll das Theater von Politik und Wirtschaft, Gelder nur aufzuschäumen?" Eine Gesellschaft dürfe sich nicht nur durch materielle Bedürfnisse lenken lassen. Sie müsse auch ein Nullwachstum verkraften kön-nen, dafür aber "ihren Horizont erweitern."

General-Anzeiger Bonn, 3. November 2008