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Das Ende eines goldenen Zeitalters

Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel rechnet damit, dass die Menschen in den westlichen Industrieländern bald härter arbeiten müssen als heute

Die menschliche Arbeit wird eine Renaissance erfahren, weil die Rohstoffe knapp werden, glaubt der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel. Dennoch werden die Löhne nur bei denjenigen steigen, die besondere Qualifikationen zu bieten haben. Die meisten Menschen in den westlichen Industrinationen werden den Lebensstandard nicht aufrecht erhalten können, schätzt er.

Süddeutsche Zeitung: Herr Miegel, die Menschen in den westlichen Industrieländern genießen einen hohen Wohlstand. Kommt jetzt die Freizeitgesellschaft?
Meinhard Miegel: Im Gegenteil. Zwar ist die Mehrheit sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich noch wohlstandsverwöhnt. Das aber wird so nicht bleiben. Schon in wenigen Jahren werden viele härter arbeiten müssen als heute und trotzdem einen materiell niedrigeren Lebensstandard haben.

Süddeutsche Zeitung: Warum sollte der materielle Lebensstandard sinken?
Meinhard Miegel: Weil seine Voraussetzungen nicht länger aufrecht zu erhalten sind: gigantischer Ressourcenverbrauch, hohe Umweltbelastungen, Verschleiß von Mensch und Gesellschaft und riesige Schuldenberge. 

Süddeutsche Zeitung:  Wie wirkt sich das auf die Arbeit aus?
Meinhard Miegel: Etwa die Hälfte unserer derzeitigen Produktivität beruht auf dem Einsatz fossiler Energieträger wie Kohle und Öl. Wenn dieser Einsatz vermindert werden muss, sei es, weil die Rohstoffe zu teuer und/oder die Umweltschäden zu hoch werden, wird die menschliche Arbeit eine Renaissance erfahren. Denn sie wird im Vergleich zu anderen Produktionsfaktoren preisgünstig sein.

Süddeutsche Zeitung: Mit dem Ergebnis dann steigender Löhne?
Meinhard Miegel: Nicht unbedingt. Mit Lohnsteigerungen können bei generell sinkendem materiellen Wohlstand nur diejenigen rechnen, die besonders nachgefragte Qualifikationen anzubieten haben. Die übrigen werden wie in den zurückliegenden Jahren aller Voraussicht nach weitere Kaufkraftverluste erleiden.

Süddeutsche Zeitung: Werden künftig mehr Menschen einer Erwerbsarbeit nachgehen?
Meinhard Miegel: Davon ist auszugehen. Vor 30 Jahren lag in Deutschland die Erwerbsbeteiligung 30- bis 50jähriger Frauen bei 55 Prozent. Heute liegt sie bei 86 Prozent. Um 2025 dürften es 94 Prozent sein. Zugleich werden viele auch wieder mehr Stunden arbeiten und später in Rente gehen. Dies ist nicht nur eine Folge der demographischen Entwicklung, sondern auch der Globalisierung.

Süddeutsche Zeitung: Inwiefern?
Meinhard Miegel: Weil die Völker der früh industrialisierten Länder ihre Wissens- und Könnensvorsprünge, die ihnen generationenlang ein recht angenehmes Leben ermöglichten, zügig einbüßen. Sie können abnehmend Monopolpreise verlangen und müssen sich - wie andere auch - nach der Decke strecken. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die pro Kopf erbrachte Arbeitsmenge halbiert. Dieser Trend kehrt sich jetzt um.  

Süddeutsche Zeitung: Und jetzt heißt es: Schlaraffenland ist abgebrannt?
Meinhard Miegel:  In gewisser Weise schon. Denn wir stehen jetzt im Wettbewerb mit Milliarden von Menschen, von denen viele genauso qualifiziert und motiviert sind wie wir, die aber ihre Dienste weit billiger anbieten. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir, die Völker der früh industrialisierten Länder, erleben gerade das Ende eines materiell goldenen Zeitalters. 

Süddeutsche Zeitung: Klingt bedrohlich. Wer seinen materiellen Lebensstandard demnach aufrecht erhalten will...
Meinhard Miegel: ...wird härter arbeiten müssen. Und trotzdem wird die nachwachsende Generation feststellen, dass sie nicht den materiellen Lebensstandard ihrer Eltern aufrecht erhalten kann. Das dürfte zu tiefen Enttäuschungen und Frustrationen führen.

Süddeutsche Zeitung: Menschen gewöhnen sich doch schnell an Veränderung.
Meinhard Miegel: So schnell nun auch wieder nicht, wie ja nicht zuletzt die Massenproteste in mehreren früh industrialisierten Ländern zeigen. Deshalb ist es wichtig, die Bevölkerungen auf die bevorstehenden Veränderungen vorzubereiten.

Süddeutsche Zeitung: Wie wirkt sich die demografische Entwicklung auf die Arbeitszeit aus?
Meinhard Miegel:  Da in absehbarer Zukunft der Anteil erwerbsfähiger Menschen schneller schrumpfen wird als die Bevölkerung insgesamt, werden viele ihren Arbeitseinsatz steigern müssen, wenn der materielle Lebensstandard nicht spürbar sinken soll. Allein bis 2025 dürfte die Zahl Erwerbsfähiger in Deutschland um zwischen 3,6 und 6,3 Millionen abnehmen.

Süddeutsche Zeitung: Und dieser Trend ist unumkehrbar?
Meinhard Miegel: Das nicht. Aber eine Umkehr dauert mehrere Generationen. Soll auch nur der derzeitige Bevölkerungsstand erhalten werden, müssten alle gebärfähigen Frauen ab sofort vier Kinder haben oder die jährlich Nettozuwanderung auf 400.000 Menschen erhöht werden. Beides erscheint mir völlig utopisch. Richten wir uns also auf eine anhaltende Bevölkerungsschrumpfung ein, die sich vor allem auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen wird.

Süddeutsche Zeitung: Sie sagen wir müssen länger und flexibler arbeiten - und gleichzeitig mehr Aufgaben unentgeltlich in Familie und Gesellschaft übernehmen...
Meinhard Miegel: Jedenfalls, wenn unsere Kultur keinen Schaden nehmen soll. Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts werden sich viele Menschen damit abfinden müssen, für ihre Leistungen nicht im heute gewohnten Umfang materiell entlohnt zu werden. Eltern werden sich auch dann um ihre Kinder fürsorglich kümmern müssen, wenn sie nur ein geringes oder auch gar kein Eltern- und Erziehungsgeld erhalten und die angemessene Versorgung Pflegebedürftiger muss gegebenenfalls auch ohne Pflegegeld gewährleistet bleiben.  

Süddeutsche Zeitung: Könnten Menschen nicht von sich aus auf einen Teil des materiellen Wohlstands verzichten, um mehr Zeit für andere Dinge des Lebens zu haben?
Meinhard Miegel: Ich hoffe, dass sie dies tun, zumal sie sich ja auch künftig auf einem historisch und international sehr hohen materiellen Niveau bewegen werden. Pro Kopf steht ihnen vorerst ein Vielfaches dessen an materiellen Gütern zur Verfügung was die Menschen vor 50 oder 100 Jahren besaßen. Sie haben also durchaus die Möglichkeit, sich andere, immaterielle Wohlstandsquellen zu erschließen. Ob und in welchem Umfang sie das tun werden, vermag ich allerdings nicht zu sagen. Vielleicht ist die Entwicklung hierfür noch nicht reif.

Interview: Caspar Dohmen

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung, 20. September 2011, S. 26)