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Konsum ist nicht alles

Der Zukunftsforscher Meinhard Miegel prophezeit ein Ende des immerwährenden Wachstums - und meint das ganz positiv. Denn erst das Ende der Herrschaft des Ökonomischen schaffe Raum für eine ganz neue Art von Wohlstand: Familie, Freunde, Kultur

Der Zukunftsforscher Meinhard Miegel will den Deutschen die Angst nehmen vor den gewaltigen Veränderungen, die uns infolge der Globalisierung und der Alterung der Gesellschaft erwarten. Der Sozialwissenschaftler sieht Chancen für eine ganz neue Art von Wohlstand. Schon heute seien den meisten Deutschen Familie, Freunde und Umwelt wichtiger als das Wirtschaftswachstum. Mit dem Leiter des Instituts Denkwerk Zukunft sprach Dorothea Siems.

Die Welt: Herr Professor Miegel, trotz Aufschwung und Jobboom blickt die Mehrheit der Bevölkerung mit Sorge in die Zukunft und erwartet, dass ihr Leben in 20 Jahren schlechter sein wird. Sind die Deutschen unverbesserliche Pessimisten - oder Realisten?

Meinhard Miegel: Im Vergleich zu unseren Nachbarn sind wir meist pessimistischer. Das scheint Teil unseres Naturells zu sein. Doch unter Umständen setzt diese Geisteshaltung auch große Kräfte frei.

Die Welt: Ist Deutschland Gewinner oder Verlierer der Globalisierung?

Miegel: Beides. Es ist Gewinner, weil aufgrund der Globalisierung die Weltwirtschaft kräftig wächst und wir als Exportweltmeister davon profitieren. Ohne Globalisierung wäre unser heutiger Lebensstandard deutlich niedriger. Es ist aber auch Verlierer. Über Generationen hinweg befanden sich Länder wie Deutschland in einer überaus privilegierten Lage. Wir hatten gegenüber der übrigen Welt immense Wissens- und Könnensvorsprünge, und die Schätze dieser Erde, namentlich Rohstoffe und Energieträger, standen uns beinahe exklusiv zur Verfügung. Die Globalisierung hat diese Privilegien weitgehend beseitigt. Nach und nach wird unsere Volkswirtschaft im großen Schmelztiegel der Weltwirtschaft eingeschmolzen werden.

Die Welt: Führt diese Entwicklung dazu, dass die Dritte Welt nach Deutschland kommt? Werden wir hier neben Wohlstandsinseln auch abgehängte Regionen haben?

Meinhard Miegel: Die regionalen Unterschiede nehmen schon heute zu. In Deutschland besteht ein deutliches Wirtschaftsgefälle von Südwest nach Nordost. Das aber kann und sollte nicht der Globalisierung angelastet werden. Folgenreicher sind ohnehin die wachsenden Unterschiede innerhalb der Gesellschaft - die Unterschiede zwischen Deutschstämmigen und Migranten, Gebildeten und Ungebildeten, Qualifizierten und Unqualifizierten. Sie erzeugen Spannungen, von denen wir noch nicht wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen.

Die Welt: Nur Gutausgebildete profitieren von der Entwicklung?

Meinhard Miegel: Sie sind die Gewinner. Die meisten anderen sind unter ökonomischen Gesichtspunkten - und ich betone ökonomisch - recht leicht ersetzbar. Um zu verhindern, dass sie zunehmend an den Rand der Erwerbsarbeit gedrängt werden, müssen tief sitzende Sicht- und Verhaltensweisen geändert und muss vieles neu gedacht werden. Möglicherweise hilft uns dabei die anhaltende Verteuerung von Energie und anderen Rohstoffen. Sie verleiht gerade körperlicher Arbeit wieder einen höheren Stellenwert. Bisher wurde alles darangesetzt, den menschlichen Muskel durch andere Formen von Energie zu ersetzen. Ein Beispiel: Anstatt zu laufen, haben wir uns ins Auto gesetzt. Wird das Autofahren jedoch unerschwinglich teuer, wird auch wieder mehr gelaufen werden. Ebenso könnten Unternehmen anstelle von aufwendigen Moto-ren zusätzlich Arbeitskräfte einsetzen. Freilich ist die Gesellschaft auf solche Entwicklungen bisher nicht vorbereitet. Kritisch ist vor allem die Frage: Wie können und sollen einfache körperliche Tätigkeiten künftig entlohnt werden? Die Maßstäbe hierfür fehlen noch. Zu sagen, jeder muss von seiner Arbeit aus-kömmlich leben können, ist zu platt.

Die Welt: Die Linken wollen mit mehr Umverteilung der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken. Ein sinnvoller Ansatz?

Meinhard Miegel: Nein, die Linke denkt immer noch in geschlossenen Systemen. Befänden wir uns alle hinter Mauer und Stacheldraht, könnte der Staat in der Tat nach Belieben umverteilen. Das aber ist zum Glück nicht länger die Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit leisten die wirtschaftlich Starken das, was ihnen angemessen erscheint. Werden ihnen die Lasten zu schwer, entziehen sie sich. Und vergessen wir nicht: Wir befinden uns in einem Weltkrieg um Talente. Wer über Humankapital verfügt, ist überall willkommen. Unter diesen Bedingungen von fünf Prozent der Steuerzahler 40 Prozent und von der Hälfte 92 Prozent der direkten Steuern einzutreiben ist eine politische Meisterleistung und Ausdruck großer Solidarität der Starken mit den Schwachen. Trotzdem wird sich die Verteilungsfrage weiter zuspitzen. Denn unsere Gesellschaft ist in geradezu exzessiver Weise auf Ökonomisches, auf die Mehrung materiellen Wohlstands hin geprägt. In dieser ökonomiegeprägten Welt können jedoch immer weniger mithalten.

Die Welt: Hält unsere Gesellschaft das denn aus?

Meinhard Miegel: Ich fürchte, nein. Eine Gesellschaft, die ihre Heilsversprechen nicht mehr einlösen kann, gerät unweigerlich in Turbulenzen. Das zeigt die Geschichte. Frühere Gesellschaften waren geprägt beispielsweise von Religiösem, Nationalem oder Militärischem. Schwand die jeweilige Prägung und das mit ihr einhergehen-de Heilsversprechen, setzte ein Zerfall ein. Wir, in den früh industrialisierten Ländern, sind geprägt vom Versprechen immerwährender materieller Wohlstandsmehrung. Mittlerweile wird deutlich, dass auch dieses Versprechen nicht zu halten ist. Das macht viele verdrießlich. Sie fühlen sich getäuscht und betro-gen und wenden sich nicht nur von Politik und Politikern, sondern selbst von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ab. Es wird eine vorrangige Aufgabe des von mir mitgegründeten Denkwerks Zukunft sein, dieser Herausforderung zu begegnen.

Die Welt: Brauchen wir einen veränderten Wohlstandsbegriff, der nicht allein auf Wirtschaftswachstum gründet?

Meinhard Miegel: Unbedingt. Denn so schön Wirtschaftswachstum und materielle Wohlstandsmehrung sind - eine wachsende Zahl von Menschen hat daran nicht mehr teil. Dies nicht zuletzt deshalb, weil immer größere Teile der Wirtschaftskraft benötigt werden, um negative Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung wie Umweltschäden oder gesellschaftlichen Zerfall zu kompensieren.

Die Welt: Wirtschaftlich droht dann ein Rückschritt.

Meinhard Miegel: Was heißt Rückschritt? Die US-Amerikaner gelten als wohlhabender als die Deutschen. Aber sind sie das auch? Gewiss erwirtschaften sie pro Kopf ein höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP). Aber wie? Sie verbrauchen unendlich viel Energie, weil sie in schlecht isolierten Häusern leben und technisch rückständige Autos fahren. Sie haben das Frühstück kommerzialisiert, indem sie es in einem Coffeeshop einnehmen, und den abendlichen Drink genießen sie in einer Bar. Die Deutschen haben das auch alles, aber eben zu Hause oder bei Freunden. Nicht zuletzt deshalb ist ihr Bruttoinlandsprodukt geringer. Aber macht sie das ärmer?

Die Welt: Wenn Deutschland langsamer wächst als andere Staaten, steigen wir in der Weltliga doch ab.

Meinhard Miegel: Gemessen woran? Wenn nur das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab herangezogen wird, ist ein zumindest relativer Abstieg nicht auszuschließen. Aber was besagt das über das Wohlergehen eines Volkes? Nur in armen Gesellschaften enthalten BIP-Zahlen bedeutsame Informationen. In wohlhabenden Gesellschaften wie der unseren werden andere Wohlstandsindikatoren wichtiger. Das hat unsere IWG-Studie "Der programmierte Stillstand" eindrucksvoll belegt. Wohlstand, das ist heute für viele Sicherheit im Inneren wie nach außen, ein guter Arbeitsplatz, verlässliche Sozialsysteme und im übrigen Spaß, Ruhe, Muße, Familie, Freunde, eine intakte Umwelt und nicht zu viel Stress. Erst wenn das alles zu einer gewissen materiellen Grundausstattung hinzukommt, fühlen sich die meisten wohlhabend. Nur eine Minderheit von rund 16 Prozent setzt konsequent auf materielle Wohlstandsmehrung.

Die Welt: Ist das die neue deutsche Bequemlichkeit?

Meinhard Miegel: Nein, mit Bequemlichkeit hat das nichts zu tun. Die Menschen verschieben nur ihre Akzente. Immer mehr begreifen, dass die bisher gegangenen Wege nicht länger Erfolg versprechend sind. Deshalb wenden sie sich anderen, nicht materiellen Bereichen zu.

Die Welt: Wie wirkt sich die Alterung der Gesellschaft aus?

Meinhard Miegel: Sie wird diesen Trend deutlich verstärken. Auch das zeigt die Studie. Ab Mitte 40 und mehr noch ab 60 treten für viele materielle Dinge in den Hintergrund. Das bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Wirtschaft, zumal ja auch das Durchschnittsalter der Belegschaften zügig steigt. Allerdings betrifft die Alterung nicht nur Länder wie Deutschland, sondern die ganze Menschheit. In 30 bis 50 Jahren wird die Altersstruktur in vielen Ländern unserer heutigen ähneln. Wir Europäer haben einst das Expansive in die Welt getragen. Jetzt kommt die Gegenbewegung, die Kontraktion - Bevölkerungsschrumpfung und Alte-rung. Und die Welt wird uns abermals folgen.

Die Welt: Ist das eine Katastrophe?

Meinhard Miegel: Im Gegenteil. Derartige Veränderungen bieten große Chancen. Wegen der einseitigen Ausrichtung auf das Ökonomische wurden andere Bereiche menschlicher Kultur vernachlässigt. Viele Menschen haben beispielsweise nie die Erfahrung gemacht, ein Musikinstrument spielen zu können. Lassen Sie es mich einmal ganz metaphorisch sagen: Wenn das viele Licht, dass uns heute umgibt, etwas weniger gleißt, können wir vielleicht auch wieder einmal die Sterne sehen.

Die Welt: Vollzieht sich der gesellschaftliche Wandel reibungslos?

Meinhard Miegel: Das wäre ein Wunder. Viel wahrscheinlicher ist eine ziemlich lange Rumpelstrecke. Die dann folgende historische Phase könnte jedoch spannender, lohnender und menschenwürdiger werden als diejenige, die die Menschheit in den zurückliegenden 150 Jahren durchlebt hat. Voraussetzung hierfür ist aber, dass wir unsere Sicht- und Verhaltensweisen ändern. Wir müssen uns von unseren derzeitigen ökonomischen Prägungen lösen und anderen Dingen mehr Raum geben. Die vielen Facetten unserer Kultur müssen wieder in ein ausgeglicheneres Verhältnis zueinander gebracht werden.

Die Welt, 21. Juli 2008