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Kein Grund für deutschen Pessimismus

Gesellschaftsforscher Miegel fordert neuen Wohlstandsbegriff, der nicht nur auf ökonomischem Wachstum basiert

Berlin - Ungeachtet der Anzeichen für ein Abbremsen des Wirtschaftswachstums haben der Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) die Öffentlichkeit vor Schwarzmalerei gewarnt. Miegel forderte angesichts der Angst in der Bevölkerung vor einem sinkenden Lebensstandard sogar einen neuen Wohlstandsbegriff.

Dieser sollte nicht mehr allein auf dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) basieren, sagte der Leiter des neu gegründeten Instituts Denkwerk Zukunft der WELT. Denn ein dauerhaft starkes Wirtschaftswachstum sei für Deutschland in Zukunft nicht realistisch.

Noch sei die hiesige Gesellschaft "in geradezu exzessiver Weise auf Ökonomisches, auf die Mehrung materiellen Wohlstands hin geprägt", andere Bereiche der menschlichen Kultur würden vernachlässigt. Doch in der Bevölkerung gebe es bereits eine Akzentverschiebung, sagte der Sozialwissenschaftler. Umfragen zeigten, dass für die Mehrheit der Deutschen inzwischen Werte wie Sicherheit, Familie oder Umwelt vor materieller Wohlstandsmehrung rangierten. Dieser Trend sei keineswegs ein Ausdruck von Bequemlichkeit. Vielmehr sieht Miegel hierin Chancen für eine Zukunft, die "spannender, lohnender und menschenwürdiger" sei als die heutige Zeit.
Gleichwohl stünden infolge der Globalisierung, Energieverteuerung und Überalterung der Gesellschaft Turbulenzen bevor. Während die Gutqualifizierten von dem Wandel profitierten, drohe ein immer größerer Teil der Bevölkerung abgehängt zu werden, sagte Miegel. Zugleich wandte er sich gegen der Ruf der Linken nach noch mehr Umverteilung. Dies würde gut gebildete Leistungsträger vertreiben. Pessimismus, so der Forscher abschließend, "scheint Teil unseres Naturells zu sein".

Die pessimistische Grundhaltung kritisiert auch Finanzminister Steinbrück. Mit Blick auf die erwartete Abschwächung der Konjunktur im nächsten Jahr sagte er der "Welt am Sonntag": "Wir sind nicht in einer Situation, in der wir schon wieder Krisenszenarien entwickeln müssen." Die deutsche Wirtschaft sei robuster als vor drei oder vier Jahren und besser aufgestellt als die der USA. Für 2009 sei natürlich eine Abschwächung zu erwarten. "Aber bitte nicht gleich wieder die typisch deutsche Beschwörung einer Rezession", so Steinbrück. Wer immer über Notfallpläne redet, der redet genau diese Notfälle herbei. "Daran habe ich kein Interesse."

Die Welt, 21. Juli 2008