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Die brutale Wahrheit

von Hildegard Stausberg

Die westliche Kultur der Wohlstandsmehrung scheint nicht mehr zukunftsfähig zu sein

"Unsere Gesellschaft zerbröselt und verliert ihre Zukunftsfähigkeit, weil sie keine Antwort mehr hat auf die alles entscheidende Sinnfrage des Lebens; da für die Mehrheit unserer Bevölkerung Wohlstandsmehrung und freiheitliche Demokratie dasselbe ist, hängt deren Überleben vom wirtschaftlichen Wachstum ab; dadurch werden alle Lebensbereiche vom Ökonomischen dominiert." Eigentlich kennen wir Sätze wie diese zur Genüge. Und eigentlich erregen sie nicht mehr: Man nahm sie zur Kenntnis. Erst durch die Schreckenstage der letzten Woche erhielten sie nun plötzlich beim Gründungssymposium von "Denkwerk Zukunft - Stiftung für kulturelle Erneuerung" einen völlig anderen Stellenwert: Man spürte mit Wucht, dass sie wichtig sind, weil eben wahr, brutal wahr!

Und wenn Meinhard Miegel, seit vielen Jahren ein präziser Analytiker unserer gesellschaftlichen Misere und nun Gründungsvater des "Denkwerks", diagnostiziert, dass unsere vorrangig auf materielle Wohlstandsmehrung abzielende westliche Kultur unter den herrschenden ökonomischen, ökologischen, demografischen und mentalen Bedingungen nicht mehr zukunftsfähig ist, erwächst plötzlich eine große Bereitschaft, ihm zu glauben. Man spürt eindringlich, irgendwie kann es nicht so weitergehen! Aber dann erwische ich mich dabei, dass ich dieses doch schon seit Längerem - immer wieder mal - empfunden habe. Konsequenzen hatte das bisher nie! Irgendwie ging es immer weiter - und zwar im gleichen Trott wie bisher. Werden die schieren Dimensionen der Krise nun eine Wende erzwingen? Und wie wird sie aussehen? Befinden wir uns wirklich schon in einem "weltbürger-kriegsähnlichen Zustand", wie FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher glaubt?

Beim Denkwerk-Gründungssymposium lässt Kurt Biedenkopf jedenfalls keinen Zweifel daran, dass es ein "Weiter so" nicht mehr gibt: "Diese Krise wird für die westliche Welt einen Paradigmenwechsel erzwin-gen, der nur noch vergleichbar ist mit den grundlegenden Erschütterungen, die von der Reformation ausgingen; was wir jetzt erleben, ist mehr als eine Krise: Es ist eine existenzielle Gefährdung unserer Demokratie." Am Tegernsee, wo der Gründungskongress stattfand, schien am ganzen Wochenende die Sonne. Sattester Wohlstand ist überall sichtbar. Ein Einbruch scheint hier unvorstellbar - noch!

Die Welt, 13. Oktober 2008