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Sie hätten früher Feierabend

Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel prophezeit - auch angesichts der "Krise" - ein Ende immerwährender Wohlstandsmehrung. Ist Nullwachstum heilsam?

FOCUS: Warum bricht die Wachstumsideologie immer noch nicht zusammen, obwohl Sie das schon seit 30 Jahren prophezeien?

Meinhard Miegel: Weil alles Leben wachsen will. Das ist ganz natürlich. Das Problem dieser Gesellschaft ist deshalb auch nicht Wachstum an sich, sondern dass sie sich auf eine ganz bestimmte Wachstumsform versteift hat, die Ressourcen verbrauchende, Umwelt belastende Mehrung materieller Güter. Und diese stößt an Grenzen.

FOCUS: Der Sinneswandel will anscheinend nicht eintreten. Kann es sein, dass Sie in Ihrem Amt als Warner zu sehr als Strafprediger verfehlten Lebenswandels auftreten und deshalb nicht genügend wahrgenommen wurden?

Meinhard Miegel: Ich kann mich wirklich nicht über ungenügende Wahrnehmung beklagen. Dass es so wie bisher nicht mehr weitergeht, ist doch mittlerweile beinahe Allgemeingut. Die Begrenztheit der Ressourcen - Luft, Wasser, Boden, Energie oder Rohstoffe - wird kaum noch von jemandem bezweifelt. Nur fällt es den meisten schwer, auch entsprechend zu handeln. Da steht ihnen ihre generationenlange Prägung im Wege. Auf Veranstaltungen erlebe ich immer wieder, dass Zuhörer sagen: Wir sind ganz Ihrer Auffassung, aber kann denn nicht wenigstens für uns und unsere Kinder alles bleiben wie es ist?

FOCUS: Worauf gründet Ihre Skepsis gegenüber der herrschenden Ökonomie?

Meinhard Miegel: Milliarden von Menschen kämpfen ums Überleben und wir, die wir einen unvergleichlich höheren Lebensstandard haben, werden ständig animiert, doch noch mehr zu konsumieren. Iss was! Trink was! Kauf dir noch ein T-Shirt, obwohl für dessen Produktion tausende von Litern Wasser benötigt werden, die es in den Baumwollregionen oft nicht gibt. Diese Gebiete versteppen und versanden dann. Nein, ein immerwährendes Wachstum von zwei oder drei Prozent kann nicht funktionieren. Ein Taschenrechner offenbart die ganze Absurdität dieses Konzepts. Drei Prozent Wachstum - das bedeutet in einem Menschenleben die Verzwölffachung der Gütermenge. 

FOCUS: Über 200 Jahre war Wirtschaftswachstum gleichbedeutend mit Wohlstand.

Meinhard Miegel: Das war ja auch richtig. Nur ist der Zusammenhang zwischen Wachstum und Wohlstandsmehrung im Laufe der Zeit immer lockerer geworden und manchmal wirkt Wachstum inzwischen wohlstandsvernichtend. Wem nützt es, wenn vor lauter Wachstumsanstrengungen Menschen depressiv werden, Familien zerbrechen und Gesellschaften verfallen. Wachstum um jeden Preis ist zu teuer erkauft.

FOCUS: Sie beschreiben Wachstum als kranke Ideologie. Naturwissenschaftler sehen darin ein Naturphänomen.

Meinhard Miegel: Ich auch. Deswegen ist es mir ja so wichtig zu klären, von welchem Wachstum die Rede ist. Das Wachstum, das heute in aller Munde ist, ist ein krankes Wachstum, denn anders als in der Vergangenheit macht es die Menschen in Ländern wie Deutschland kaum noch zufriedener und glücklicher, verursacht aber beträchtliche Schäden.

FOCUS: Der Wunsch nach mehr Komfort und Wohlstand ist offenbar tief im Menschen verankert - wie wollen Sie die Welt vom Ende dieses Trips überzeugen?

Meinhard Miegel:  Ich brauche niemanden zu überzeugen. Dieser Trip verkündet sein Ende selbst. Sich hinzustellen und zu predigen "Tuet Buße, konsumiert weniger, schnallt den Gürtel enger" ist müßig. Die Menschen werden schon merken, wenn ihre Hose rutscht.

FOCUS: Ludwig Erhard empfahl: Maß halten! War er ein früher Nachhaltigkeits-Visionär?

Meinhard Miegel: Ich glaube schon. Als die Bevölkerung etwa 40 Prozent ihres heutigen materiellen Lebensstandards erreicht hatte, erklärte er, dessen weitere Mehrung könne nicht länger vorrangiges Ziel der Politik sein. Nunmehr gehe es um die Festigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dafür haben ihn viele verspottet. Aber Recht hatte er trotzdem.

FOCUS: So mussten Banken und Volkswirtschaften fast zwangsläufig in die Krise geraten. Vielleicht ist das Schlimmste aber schon überstanden und die bewährten Rezepte retten uns erneut?

Meinhard Miegel: Solche Hoffnungen sind trügerisch. Was wird denn passieren? Wenn die Konjunktur wieder anspringt, wird sie zunächst vor einer Zinshürde stehen. Denn die Staaten haben die Geldmärkte leer gefegt und Geld wird deshalb teuer sein. Dann kommt die Rohstoff-, insbesondere Energiehürde. Beim leisesten Luftzug werden die Preise nach oben schnellen. 200 US$ für ein Barrel Öl würden mich nicht wundern. Dahinter steht dann die Umwelthürde. Es muss uns zu denken geben, dass die gegenwärtige Flaute mehr für die Umwelt gebracht hat als viele Programme. Die Umweltthematik wird zukünftig gewaltige Sprengkräfte frei setzen. Und schließlich kommt die Bevölkerung, die zu immer größeren Teilen erklärt, lasst uns bloß mit euren bewährten Rezepten in Ruhe.

FOCUS: Muss das Wirtschaftswachstum nur in Wohlstandsregionen beschnitten werden oder auch in Afrika und anderen Drittwelt-Regionen? 

Meinhard Miegel: Wie ich schon sagte, kämpfen Milliarden von Menschen ums Überleben. Denen zu erklären, sie brauchten keine weitere Steigerung ihres materiellen Lebensstandards wäre geradezu pervers. Sie haben existenziellen Nachholbedarf.

FOCUS: Unternehmen ohne Wachstumsziele und Renditen-Erwartung, eine Wirtschaft ohne verkaufsfördernde Werbung und die Möglichkeit Aktienkurse auszuweisen? Wie sieht das Szenario der Post-Wachstums-Ökonomie konkret aus? 

Meinhard Miegel: Eine Wirtschaft ohne Wachstum ist ja nicht schockgefrostet. Natürlich werden sich Unternehmen und einzelne Wirtschaftszweige weiter dynamisch entwickeln. Nur alle zusammen genommen werden nicht immer mehr produzieren. Auch künftig wird es also neue Produkte und Dienste geben, Musikkapellen werden aufspielen und Menschen in den Urlaub fahren. Aber ich räume ein, dass auf wichtige Fragen noch keine bündigen Antworten gegeben werden können, weil seit 200 Jahren nicht mehr über sie nachgedacht worden ist. Alle Kräfte waren darauf gerichtet, mehr Wirtschaftswachstum zu erzeugen. Das rächt sich jetzt.

FOCUS: Die Produktivität wird durch Innovationen automatisch immer besser. Wie würde sich Nullwachstum etwa auf die Lebens-Arbeitszeit auswirken?

Meinhard Miegel: Möglicherweise würde Nullwachstum den Produktivitätsfortschritt verlangsamen, doch  zum Stillstand käme er vermutlich nicht. Das hieße, die Erwerbstätigen erwirtschafteten in kürzerer Zeit gleich viel wie heute. Sie hätten früher Feierabend und längere Urlaubszeiten. Im übrigen würde damit, wenn auch beschleunigt, der bisherige Trend fortgesetzt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Arbeitszeit pro Kopf der Erwerbsbevölkerung halbiert. Warum also keine weiteren Kürzungen? Aber vielleicht kommt es hierzu gar nicht, weil der Produktivitätsfortschritt dringend benötigt wird, um den demographiebedingten Schwund der erwerbsfähigen Bevölkerung zu kompensieren.

FOCUS: Ist es möglich, Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln? 

Meinhard Miegel: Ja, und das ist auch in erheblichem Umfang geschehen. In den 1970er Jahren beispielsweise war es eine eherne Regel, dass jedes Prozent Wachstum ein Prozent höheren Energieverbrauch zur Folge hat. Das gilt längst nicht mehr. Viele Dinge können heute mit einem Bruchteil des früheren Material- und Energieaufwands produziert werden. Andererseits gibt es jedoch immer mehr von diesen Dingen. So braucht ein Auto von heute zwar weniger Treibstoff als ein Auto vor 30 Jahren. Doch dafür sind Millionen von Autos dazu gekommen. Und insgesamt verbrauchen diese jetzt sehr viel mehr als damals verbraucht wurde. Das Gleiche gilt für zahllose andere Produkte. Das aber heißt, die Schätze der Erde werden in wachsender Geschwindigkeit nicht nur gebraucht, sondern verbraucht.

FOCUS:  Das ist viel mehr als ein innovativer ökonomischer Vorschlag, es ist ein geradezu philosophischer Ansatz. Wie sind die Reaktionen darauf?

Meinhard Miegel: Unterschiedlich. Im Allgemeinen sind die Reaktionen positiv, so lange keine Verhaltensänderungen erwartet werden. Viele Menschen klammern sich an ökonomische Erfolge, weil sie nichts anderes haben. Auch das ist eine Folge generationenlanger Prägungen. Ich schließe deshalb nicht aus, dass es zu heftigen gesellschaftlichen Reaktionen kommt, wenn die Menschen merken, dass das Heilsversprechen immerwährender materieller Wohlstandsmehrung nicht mehr eingelöst werden kann. Einer solchen Entwicklung muss vorgebeugt werden. Die Menschen müssen wissen, dass ein Ende der materiellen Wohlstandsmehrung nicht das Ende der Welt ist und es sich insbesondere in Ländern wie Deutschland auch dann noch gut leben lässt. Nur zur Erinnerung: Wir alle, auch die wirtschaftlich Schwächsten unter uns, befinden uns im wohlhabendsten Fünftel der Menschheit. Und sie müssen wissen, dass Versuche mit ausgedienten Wachstumstherapien wieder frühere Zustände herstellen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sind. Mit ihnen lässt sich die Situation nicht bessern. Eher ist das Gegenteil zu befürchten.

Focus, 6. Juli 2009

Interview: Stephan Sattler und Martin Kunz