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Der notwendige Mentalitätswandel

Zwischenruf von Prof. Dr. Michael von Brück

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Die Katastrophe, die Japan heimgesucht hat, zeigt erneut die Begrenztheit menschlichen Wissens und Könnens. Erdbeben und Tsunamis lassen sich nicht verhindern, sondern allenfalls in ihren Wirkungen mildern, und Fukushima ist die Folge von Naivität, Ignoranz und Gier. Naiv war es, darauf zu bauen, es werde schon nichts schief gehen; ignorant war es anzunehmen, die Atomkraft sei zuverlässig beherrschbar; und gierig war es, mittels vermeintlich billiger Energie einem Konsumrausch zu frönen. Ein Mentalitätswandel ist überfällig.

Er besteht vor allem darin, die Welt wieder räumlich und zeitlich als Einheit zu begreifen und bei allem Denken und Planen die nachfolgenden Generationen nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Maxime muss sein: Statt immer größerer Gütermengen und kommerzieller Dienste mehr Lebensqualität. Diese schließt die Qualität der Energiegewinnung und des Energieverbrauchs ein. Nicht die Menge unseres Konsums, sondern die Art und Weise, wie wir leben, entscheidet über unser Glück und Unglück.

Dies ist eine der zentralen Botschaften aller großen Religionen. Zwar sind auch sie verstrickt in Eigennutz, Unwissenheit und Gewalt. Aber sie bemühen sich, den Menschen vor Torheiten zu schützen, so auch der Torheit der Selbstüberhebung, die sich nicht zuletzt darin zeigt, durch Technik die Welt nach Belieben gestalten zu können. Für die Griechen war dies Hybris, in der jüdisch-christlichen Tradition sündhafte Selbstbezogenheit, im Buddhismus Ich-Sucht. Erkennt der Mensch wieder seine Grenzen, hätte die Katastrophe, die Japan heimgesucht hat, einen Sinn gehabt.

Das Erdbeben vor der Nordostküste der japanischen Hauptinsel Honshu und seine Folgen könnten ähnliche Auswirkungen haben wie das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755. Es heißt, dieses Beben in Südwest-Europa sei so stark gewesen, wie es dem Wert 8,5-9 auf der Richterskala entspricht und löste eine 15-20 m hohe Tsunami-Welle aus, die durch die Tejo-Mündung in die Stadt eindrang. Brände folgten, die etwa 85 % der Häuser dem Erdboden gleich machten. Mehr als 60000 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Bis heute ist unklar, welche tektonische Verwerfung das Beben ausgelöst hat und wo genau das Epizentrum lag. Dieses Naturereignis im 18. Jh. hat bekanntlich seine kulturellen Schockwellen durch ganz Europa geschickt und den Optimismus der Aufklärung, den Glauben an die Vernünftigkeit der Welt („die beste aller möglichen Welten", Leibniz), an die Bewältigung der menschlichen Lebensprobleme durch aufgeklärte Rationalität erschüttert. Die kulturgeschichtliche Epoche der Aufklärung wurde durch diese Erschütterung zutiefst in Frage gestellt, und es kam zu einer neuen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die sich in der Romantik durchsetzte: Der „Sinn und Geschmack für das Unendliche" (Schleiermacher), die Anerkennung des Erhabenen als erschütternde Gewalt der Naturkräfte, die im Kosmos und im Menschen wirken, die Erkenntnis der Macht des Unbewussten in der menschlichen Psyche, der Respekt vor dem, was sich jenseits menschlicher Vernunft abspielt.

Um Japan 2011 zu begreifen, müssen wir neu und ohne Verdrängungen durch die rational-technologische Vernunft fragen: Was ist das Leiden, und: Wie kann es Glück geben angesichts solchen Leidens. Hier müssen wir zunächst sehr klar unterscheiden:

Erstens gibt es Leiden, das aus der Vergänglichkeit des Menschen (Krankheit, Sterben und Tod) herrührt. Diesem Leiden kann der Mensch durch Interpretation Sinn abgewinnen, so dass es als hilfreiche Lektion empfunden wird. So kann Krankheit als Hinweis gedeutet werden, dass Heilungskräfte mobilisiert werden müssen. Leben und Sterben werden als die zwei Seiten einer Medaille erkannt, denn Entstehen, Vergehen und Neuwerden sind der Prozess des Lebens. Der Buddhismus lehrt, wie dieses Leiden überwunden werden kann (durch Überwindung des Anhaftens und Weisheit), das Christentum lehrt, wie man mitten in diesem Leiden gut leben kann (indem das Leiden eine pädagogische Funktion hat und die Aufmerksamkeit des Menschen auf die Ursachen seiner Schmerzen, letztlich aber auf seine wahre Heimat, die unendliche Wirklichkeit Gottes, lenkt). In beiden Traditionen gilt es, dieses Leiden gelassen und in Hoffnung auf eine Sphäre jenseits des Leidens anzunehmen.

Zweitens gibt es Leiden wegen der Umgestaltungskräfte in der Natur (Naturkatastrophen). Dieses Leiden kann der Mensch nur annehmen, ohne dass er einen „Sinn" darin finden könnte. Die Akzeptanz ist rational selbstverständlich, denn die Bewegung im Kosmos, auch die Bewegung der tektonischen Platten, die Erdbeben verursachen, sind Voraussetzung und Antriebskraft der Evolution. Der Mensch hat die Intelligenz und ist lernfähig, sich darauf einzurichten und, wo möglich, seine Lebenswelt so zu gestalten, dass Gefahren vermieden oder vermindert werden. Wir leiden zwar trotz der Einsicht, aber es ist möglich, dieses Leiden so anzunehmen, dass es im größeren Zusammenhang der Dynamik in der Natur aufgehoben wird und aus einem Urgrund oder eine Quelle kommt, der man in Ehrfurcht vor dem Leben mit Urvertrauen begegnen kann. Manche nennen diesen Urgrund Gott, andere verehren ihn namenlos.

Drittens aber gibt es Leiden, das durch Menschen verursacht wird aus Gier, Aggressivität, Zerstörungswut und Dummheit. Übermäßige Aggression mag eine Reaktion auf das Gefühl von Ohnmacht und Unsicherheit sein, das wir schon in frühester Kindheit erwerben; das Böse als Gier und Hass mag der Versuch der Selbstbestätigung sein bzw. die Reaktion, wenn die Selbstbestätigung versagt wird - in jedem Fall wurzeln die zerstörerischen Gedanken und Taten des Menschen in der Unwissenheit darüber, wer er selbst ist. Wer sich selbst als unfähig erlebt und für schwach oder einsam hält, wird dieses Gefühl von Mangel durch Aggression oder Autoaggression, aber auch durch Gier kompensieren. Solche Haltungen mutieren zu kulturellen Mustern, die dann durch Erziehung über Jahrzehnte und Jahrhunderte „vererbt" werden, und es entsteht der Eindruck von der unabänderlichen „Macht des Bösen". Wer aber nicht nur intellektuell, sondern im tiefsten Grund seines Geistes „erkennt", dass er nichts anderes ist als das konkret gewordene Leben eines großen kosmisch-ökologischen Beziehungsgeflechtes, wer erfährt, dass er in seinem ganzen körperlichen wie geistigen Sein mit allen anderen Lebewesen verbunden ist, dessen Geist ist konzentriert in Hingabe und Liebe und Freude. Solche Erkenntnisse und Haltungen können durch ein gezieltes Bewusstseinstraining eingeübt werden. Die großen Religionen, namentlich auch Buddhismus und Christentum, bieten entsprechende Wege und Praxen an. Zwar sind auch die Religionen wie alle anderen gesellschaftlichen Institutionen verstrickt in Eigennutz, Gewalt, Machtspiele und Unwissenheit. Sie waren und sind aber auch ein Gegenmittel gegen die Torheit, die sich in der irrationalen Selbstüberhebung des gierigen Individuums und machthungriger Kollektive zeigt, nun auch durch Technik die Welt und sich selbst manipulieren zu können. Die Griechen nannten dies Hybris, die jüdisch-christliche Tradition spricht von der sündhaften Selbstbezogenheit des Menschen. Der Buddhismus erkennt in dieser Ich-Sucht das Grundübel. Erdbeben können wir nicht verhindern, die technologisch verursachte Katastrophe sehr wohl. Die Nutzung der Kernenergie beruht auf einer Mischung aus Naivität, Ignoranz und Gier. Naiv ist es, wenn man glaubt, dass schon nichts schief gehen wird, ignorant ist es, die Anlagen zu betreiben, ohne dass die Endlagerung des radioaktiven Abfalls geklärt ist, und dies alles auf Grund von Gier nach Konsum, um scheinbar billige Energie beziehen zu können (die vielen versteckten Kosten z.B. für die Endlagerung usw. werden nicht einkalkuliert). Eine Technologie einzuführen, deren mögliches Versagen - aus welchen Gründen auch immer - ganze Länder unbewohnbar machen und Tausende von Menschen das Leben kosten kann, und das über unabsehbar lange Zeiträume hinweg, ist schlichtweg irrational und unverantwortlich. Dieses Leiden kann aber durch Einsicht, durch einen Mentalitätswandel, vermieden werden. Wer hier bei der Entwicklung und Implementierung von Alternativen, aus rationaler Einsicht und emotionalem Mitgefühl mit allen Lebewesen geleitet, eine Vorreiterrolle übernimmt, praktiziert verantwortliche Solidarität und Liebe im Sinne der buddhistischen wie der christlichen wie aller anderen religiösen Traditionen.

Liebe? Ist dies nicht eine Gefühls-Kategorie, die in diesem Zusammenhang keinen Platz hat? Keineswegs! Liebe ist die Grundstruktur der Wirklichkeit, die fundamentale Wechselseitigkeit und Beziehung aller Dinge aufeinander. Denn nichts ist für sich selbst, vielmehr ist jede Erscheinung im Universum nur, indem sie in Beziehung ist. Durch Meditation und nicht-reduzierendes Denken kann man das erfahren, und dies ist wie ein Erwachen aus der reduzierenden Wahrnehmung der Dualität, aus der Getrenntheit und Fragmentierung, aus der Trennung von Gott (Sünde), wie man in der christlichen Tradition sagt. Wir können erkennen, dass alle Erscheinungen in der Welt nur in wechselseitiger Abhängigkeit entstehen. Und wir können erkennen, dass der Mensch erkenntnisfähig ist und demzufolge seine Motive und Handlungsimpulse verändern kann. Der notwendige Mentalitätswandel ist möglich! Er besteht vor allem darin, die Welt räumlich und zeitlich als Einheit zu begreifen. Nicht kurzfristig zu planen, sondern die nachfolgenden Generationen im Blick zu haben. Lebensqualität statt Konsumquantität zu suchen. Das schließt die Qualität der Energiegewinnung und des Energieverbrauchs ein. Nicht was und wie viel wir konsumieren, sondern wie wir leben (und dabei auch konsumieren), entscheidet über Glück oder Unglück.

Prof. Dr. Michael von Brück ist Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München.