Zeit zu handeln


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Generation Garten: Perspektiven für eine postfossile Gesellschaft

Zwischenruf von Christa Müller

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Eine neue Generation ist sich auf radikale Weise bewusst, dass der westliche Lebensstil an seine Grenzen geraten ist. Die Erkenntnis, dass die Ressourcenfragen zukünftig nicht mehr per se zugunsten der okzidentalen Gesellschaften geklärt werden, scheint eine signifikante Hinwendung zum Nahraum, zum Selbermachen und zu immateriellen Werten wie Zeitwohlstand, Nachbarschaft und Community zu bewirken. Eigensinnige Alltagspraxen fordern den neoliberalen Kapitalismus heraus, Konsum wird phantasievoll verweigert und Wachstum produktiv in Frage gestellt. Die neuen Do it yourself-Strategen und Stadtgärtner/innen eignen sich Handwerkswissen an, bauen Lastenfahrräder und verknüpfen die Produktion von lokalen Lebensmitteln konsequent mit Upcycling und postfossilen Formen der Mobilität. Sie verwandeln Industriebrachen, Parkgaragendächer und stillgelegte Flughäfen in Gärten und Orte der Begegnung, halten Bienen, kultivieren alte Sorten, reproduzieren Saatgut und übernehmen Parks in Eigenregie.
Urbane Subsistenz verweist auf das zeitliche Ineinanderfallen von zwei Epochen: der abtretenden Industriegesellschaft und einer Postmoderne der sich ankündigenden multiplen Krisen. Schon heute zeigen die sozialen Innovationen, dass der Weg in eine postfossile Gesellschaft und die damit verbundenen materiellen Wohlstandsverluste zugleich ungeahnte Perspektiven offerieren. So sehr diese zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von unten kommen müssen, so wenig machen sie staatliches Handeln obsolet. Gefragt wie nie zuvor sind eine gerechte Umverteilung, tiefgreifende Demokratisierungsprozesse und die Förderung neuer Wohlstandsmodelle. Das wäre auch die angemessene politische Kurskorrektur angesichts einer verlorenen Dekade des Neoliberalismus, in der öffentliche Einrichtungen bizarrerweise zu "Unternehmen" mutierten.

Dr. Christa Müller ist Soziologin und Geschäftsführende Gesellschafterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis in München. 2011 gab sie den Sammelband "Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt" heraus.

DISKUSSION

Eine Antwort von Kenneth Anders

Wir brauchen einen Stadt-Land-Dialog!

Der Optimismus ist verbreitet: das Ende des Erdöls wird uns an den Raum zurückbinden. Die Selbstorganisation wird gestärkt und die Logik des besinnungslosen Verbrauchs durch eine Logik des Gartens ersetzt, in der Wachstum nicht Gier, sondern Pflege und Entfaltung bedeutet. Die urbanen Stadtgärtner erscheinen als Pioniere dieses Zeitalters, denn sie stehen nicht nur für andere Werte, sondern auch für andere Strategien.
Aus einer ländlichen Perspektive sieht das Geschehen nicht ganz so rosig aus. Mit Atem beraubender Geschwindigkeit werden die Landschaften für das neue Zeitalter fit gemacht. Der demografische Diskurs hat diese Inanspruchnahme durch die Energiewirtschaft vorbereitet, indem er den Städtern jahrelang von Räumen berichtet hat, in denen niemand mehr leben wolle: hier komme es nicht so drauf an. Gegen neue Energie ist nichts zu sagen, sie ist notwendig. Aber wohin uns dieser Prozess führen wird, ist noch längst nicht ausgemacht. Das industrielle System setzt immer noch auf die Trennung von Raum und Ressource: hier der Mais und der Wind, dort die Leuchtreklame und die Exportproduktion. Gäbe es eine einheitliche Rohstoffpflanze, aus der man Essen, Kunststoff und Wärme machen könnte - nichts anderes würde mehr auf unseren Feldern wachsen.
Wo die Energie noch nicht vollkommen mobilisierbar ist, wächst auch in den ländlichen Räumen eine neue Selbstorganisation heran. Aber ohne Partnerschaften mit den Städten in ihrer Nähe werden keine Systeme daraus. Wir brauchen dringend einen neuen Stadt-Land-Dialog für die Bildung von Handlungs- und  Wertschöpfungsräumen. Wer sich auf den Salat vom Dachgarten beschränkt, sieht weg. Noch hat das postfossile Zeitalter zwei Gesichter. Das eine ist nett, verkehrsberuhigt und ökologisch. Das andere ist gnadenlos wie einst der Bergbau oder die Ölförderung: unerbittlich gegen Menschen, Ökosysteme und Kulturen.

Replik von Christa Müller

In der Sache gebe ich Ihnen weitestgehend recht. Was ich allerdings nicht glaube, ist, dass die Leute, die in der Stadt Salat pflanzen, ignorant gegenüber dem "Strukturwandel" auf dem Land sind. Ich glaube, da schätzen Sie die politische Bedeutung dieser Bewegung falsch ein. Und auch wir, also die Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis, halten regionale Subsistenz für ebenso wichtig wie urbane Subsistenz. Deshalb haben wir 2010 auch ein eigenes Forschungsprojekt zu neuen Regiotrends gestartet, das wir aber wegen eines tragischen Todesfalls im Kollegium vorerst stoppen mussten.
Nicht zuletzt weise auch ich immer wieder unermüdlich darauf hin, dass urbanes Gärtnern einen neuen Bewusstseinshorizont bezüglich der Landwirtschaft eröffnet, wie hier z.B. in einem Zitat aus "Urban Gardening", in dem es um das Stadtplanungskonzept "Agropolis" geht (S. 43):
"Ernten in der Stadt sensibilisiert für die rurale Landwirtschaft, für Produktionsabläufe, für Erntezyklen, für die Saisonalität der Produkte. So könnte ein solcher Stadtteil auch Impulsgeber sein für die Generierung von Diskursen über Regionalisierung, den Wert der Nahrungsmittelproduktion, den ökologischen Landbau und generell die Stadt-Land-Beziehungen."