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Machtverschiebung: Europa nach der Wahl

Zwischenruf von Rainer Hank

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Die Entmachtung der europäischen Regierungen hat sich die deutsche Kanzlerin selbst eingebrockt, als sie sich auf das Spiel der „Spitzenkandidaten" einließ: Fortan gab es nur die Wahl zwischen Martin Schulz und Jean-Claude Juncker, eine Wahl, die jener zwischen Jacke und Hose gleicht. Herausgekommen, und von den Parlamentariern nach Kräften geschürt, ist der illusionäre Anschein, die Bürger der EU hätten ihrem Parlament den Auftrag gegeben, aus sich heraus eine europäische Regierung zu wählen, an deren Spitze eben der - Nomen ist Omen - Spitzenkandidat zu stehen habe. Wir wurden genötigt, eine europäische Verfassung, die es gar nicht gibt, nach dem Vorbild nationalstaatlicher demokratischer Regimes zu modellieren. Und der britische Premier David Cameron, der einzige Machtmann, der das aussprach, wurde von der Mehrheit verlacht.

Verheerend ist, dass diese Deutung eine grandiose Fehleinschätzung demokratischer Legitimation zur Folge hat: Wäre Juncker nicht nominiert worden, so posaunte es der öffentliche Diskurs zumindest hierzulande, wäre die demokratische Entscheidung des europäischen Wahlvolks mit Füßen getreten worden. Dabei wird übersehen, dass es keine europäische Parteien gibt und erst recht keinen Zusammenhang zwischen EU-Parlament und Europäischem Rat, der dem zwischen Legislative und Exekutive gliche. Erst recht gibt es bei den Menschen kein EU-Bewusstsein (zum Beleg muss man sich nur den Wettbewerb der Nationen bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien ansehen). Einzig die europäischen Regierungen besitzen die Legitimation, als demokratisch-souveräner „Prinzipal" den Europäischen Rat als ihren „Agenten" einzusetzen. Doch das gilt im öffentlichen Bewusstsein inzwischen als undemokratische Kungelei. Damit frisst sich die nächste Krise in die europäischen Institutionen hinein.

Rainer Hank leitet die Wirtschafts- und Finanzredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.