Big Data und die Pflicht zur Mäßigung
Zwischenruf von Yvonne Hofstetter
Eröffnen wir diesen Zwischenruf mit einer Kriegserklärung an die digitale Gesellschaft: „Der Mensch soll nicht alles wissen. Und wenn er alles wissen will, stellt er sich unter die Fahne des Lügners von Anbeginn." Nach heutigem Verständnis pathetisch bis zur Schrulligkeit, wird das Zitat Hildegard von Bingen zugeschrieben. Es deutet drei Aspekte von Wissen an. Erstens: Der ständige Drang zu mehr Wissen macht das innerste Wesen des Menschen aus. Zweitens: Wissen hat etwas mit Wahrheit zu tun. Das neue Wissen, das uns Big-Data-Technologien verheißen, kann von der Wahrheit weit entfernt sein. Sprichwörtlich reden Data Scientists von der False Negative Rate, von Fehleinschätzungen der Datenanalyse und -prognose - sie sind unwahr und werden dennoch kommerziell verwertet. Drittens drängt sich der Gedanke an die Folgen auf für jene, die einst alles wissen wollten: Es ist die Vertreibung aus dem Paradies. Auch heute droht im schlimmsten Fall der Zerfall des freiheitlichen Menschenbildes unseres Grundgesetzes.
Und die andere Seite? Es gibt Wissen, das wie ein ungewolltes Kind ist. Es ist da, und die Verantwortung dafür hält ein Leben lang. Die Weitergabe von Wissen ist nicht schrankenlos, wie Internetgiganten vorgeben. Das Recht auf Wissen gilt es abzuwägen - gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme und zur Vermeidung von Ärgernissen mit dem Ziel einer friedlichen Gesellschaft.
Alle sind für den verantwortungsvollen Umgang mit Wissen aufgerufen - die mehr wissen wollen und die über Wissen verfügen. Gerecht werden wir unserer Verpflichtung dann, wenn Big-Data-Technologien auf Mäßigung treffen. Noch sind wir nicht soweit. Noch kosten alle den Exzess aus: wir selbst und die Big-Data-Industrie. Um welchen Preis, das muss unsere nächste Sorge sein.
Yvonne Hofstetter, 48, leitet das Hightech-Unternehmen Teramark Technologies GmbH im Münchener Norden. Im C. Bertelsmann Verlag erschien zuletzt ihr Buch: „Sie wissen alles".