Zeit zu handeln


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Ein unfruchtbares Biotop

von Meinhard Miegel

Die Art und Weise, wie in den zurückliegenden Monaten die Zuwanderung von rund einer Million Menschen nach Deutschland debattiert und kommentiert worden ist, legt erneut Zeugnis davon ab, dass es hierzulande - wie in anderen Ländern - noch immer kein hinreichendes Verständnis für das wohl wichtigste Datum einer Gesellschaft gibt: die quantitative und qualitative Entwicklung ihrer Bevölkerung. Denn es macht für eine Gesellschaft einen ungeheuren Unterschied, ob ihre Bevölkerung zahlenmäßig zunimmt, abnimmt oder stagniert, ob sie im Durchschnitt jung oder alt ist, ob ihr Altersaufbau stabil ist oder sich zügig ändert und ob der Anteil Erwerbsfähiger hoch oder niedrig ist, steigt oder fällt. Doch obwohl das alles trivial erscheint und schlussendlich auch ist, beschäftigen solche Fragen kaum jemals die breitere Öffentlichkeit und allenfalls gelegentlich die Politik.

Auch wenn in neuerer Zeit diese Gewissheit ein wenig bröckelt, handeln die meisten noch immer nach dem Adenauer'schen Diktum "Kinder haben die Leute immer", soll heißen, um die Bevölkerungsentwicklung braucht man sich keine wirklichen Gedanken zu machen. Sie ist ein von der Natur gegebener Selbstläufer. Dabei stöhnte schon Friedrich II. als er durch sein dünn besiedeltes Preußen streifte "Menschen, vor allem Menschen". Diese kamen dann im 19. Jahrhundert in großer Zahl. Dennoch drohte die Industrialisierung ins Stocken zu geraten, weil z.B. Bergleute für die neu erschlossenen Kohlegruben im Ruhrgebiet fehlten. Die Lösung: Menschen aus Polen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts klemmte es erneut beim Aufbau der mitteldeutschen Chemieindustrie. Nun mussten Balten, namentlich Litauer, angeworben werden. Und als in den 1960er Jahren ein weiteres Mal wachstumshemmender Arbeitskräftemangel auftrat - ein Mangel, der keineswegs nur eine demografische Nachwirkung des 2. Weltkriegs war - begann der große Fischzug in Süd- und später in Südosteuropa sowie der Türkei - die Zeit der breiten Gastarbeiterströme.

Anlass, sich mit ihrer Bevölkerungsentwicklung zu beschäftigen, hatten die Deutschen also immer wieder. Aber abgesehen von der teilweise geradezu rabiaten  Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten taten sie das nur zögerlich und in der Regel weitgehend folgenlos und das, obwohl der letzte Jahrgang, der sich in der Zahl seiner Kinder ersetzt hatte, bereits 1882 geboren worden war. Nachdem dieser Jahrgang in den 1920er Jahren seine Kinder gehabt hatte, lag die "Ersatzquote" bis Ende der 1960er Jahre bei nur noch etwa 90 Prozent, woran auch die Geburtenpolitik der Nationalsozialisten und der Babyboom in den 1960er Jahren nichts Grundsätzliches änderten. Jeder Kinderjahrgang war zahlenmäßig schwächer als der Elternjahrgang. Wenn die Bevölkerung dennoch zunächst weiter wuchs, dann zum einen, weil die Kinderjahrgänge zwar schwächer als die Elternjahrgänge aber zahlenmäßig stärker als die Großelternjahrgänge waren - das demografische Echo - und zum anderen, weil immer weiter Menschen nach Deutschland zuwanderten.

Diese Periode fand gegen Ende der 1960er Jahre ihren Abschluss. Binnen kurzer Zeit stürzte die Ersatzquote von 90 auf durchschnittlich 65 Prozent - ein Wert, bei dem sie seitdem verharrt. Damit ersetzt sich in Deutschland jeder Jahrgang seit knapp einem halben Jahrhundert zu nur noch zwei Dritteln. Die unvermeidlichen Folgen hiervon wurden zunächst kaschiert durch immer weitere Zuwanderer, aufgrund derer mittlerweile ein Fünftel der Bevölkerung dieses Landes Migranten oder Abkömmlinge von Migranten sind. Ein Fünftel. Das sind etwa 16 Millionen Menschen, ohne die Deutschland heute ein völlig anderes Gesicht hätte.

Schon in den 1990er Jahren und mehr noch im darauffolgenden Jahrzehnt reichte die Zuwanderung allerdings nicht mehr aus, um die Lücken, die der Geburtenmangel riss, zu schließen. Um die Einwohnerzahl konstant zu halten und das Durchschnittsalter nicht allzu rapide ansteigen zu lassen, mussten - so wurde amtlicherseits vorgerechnet - kontinuierlich ansteigend 300.000 bis 500.000 Menschen nach Deutschland nicht nur zuwandern, sondern auch bleiben, was einer Bruttozuwanderung von 0,6 bis 1 Million Menschen entspricht. Denn nach aller bisheriger Erfahrung bleibt höchstens die Hälfte derer, die kommen. Die anderen ziehen weiter oder in ihre Heimatländer zurück.

Eine immer klaffendere Bevölkerungslücke war also programmiert, als sich im vorigen Jahr recht unvermittelt viele hunderttausend Menschen aus Kriegs- und Armutsregionen aufmachten, um in Europa, vor allem in Deutschland, Sicherheit und Lebensperspektiven zu finden. Wie viele von ihnen bleiben können und werden, wird sich erst noch zeigen. Doch werden es jährlich kaum mehr als einige Hunderttausend sein, also kaum mehr als dem längerfristigen Schwund der ansässigen Bevölkerung entspricht. Ist damit alles bestens? Ist diese seit Generationen  verfolgte Strategie, die eigene Geburtenarmut mit dem Geburtenreichtum anderer Völker zu kompensieren, noch einmal aufgegangen?

Nicht ganz. Wie die Reaktionen auf die jüngste Zuwanderung nur allzu deutlich machen, werden die demografischen Aspekte solcher Ereignisse von breiten Schichten der Bevölkerung noch immer nicht hinreichend begriffen. Diese sind vollauf von Vordergründigem absorbiert: Wie sollen die Menschen untergebracht und beschäftigt werden, werden sie den Alltag der Einheimischen verändern und ähnliches mehr. Fragen wie diese sind zweifellos berechtigt. Aber sie werden dem Ereignis nicht gerecht. Offenbar sind sich viele nach wie vor nicht bewusst, in welchem existenziellen Dilemma sich Gesellschaften befinden, deren Bevölkerungen sich, wie die deutsche, hartnäckig nur zu zwei Dritteln in der Zahl ihrer Kinder reproduzieren. Denn was immer die Zukunft solchen Gesellschaften bringen mag: Ihr Weg wird schwierig werden. Die Zuwanderung dieser Tage ist da nur ein Vorspiel.

Jetzt rächt sich, dass Bevölkerungsfragen in Deutschland über Jahrzehnte hinweg nur einen sehr geringen Stellenwert hatten und haben. Nüchtern rational konnte und kann über sie schwerlich debattiert werden. Lange hieß es: Nur keine Panik. Die Menschen werden schon wieder Kinder haben. Und im Übrigen: Wozu überhaupt Kinder in einer Welt, in der Milliarden von Menschen schon jetzt nicht über das Nötigste verfügen? Jeder soll für sich selbst entscheiden. Oder, wie eine große Partei in den 1970er Jahren plakatierte: "Mein Bauch gehört mir!"

Das alles lässt sich hören und entbehrt auch nicht einer gewissen Logik. Doch wenn die einzelnen Argumentationssplitter zusammengefügt werden, ergeben sie kein schlüssiges Ganzes. Deshalb breiten sich nach Jahrzehnten des bevölkerungspolitischen laissez faire nunmehr diffuse Ängste aus. Wird es aufgrund anhaltenden Bevölkerungsschwundes Wachstumseinbrüche geben? Werden zunehmend Wohnungen leer stehen und Infrastrukturen brach liegen? Wird der Konsum einbrechen? Wird es auch künftig genügend qualifizierte Arbeitskräfte geben und wo kommen sie her? Wie sollen die sozialen Sicherungssysteme auf Dauer finanziert werden? Und wie ist es um die Innovationsfähigkeit und Dynamik einer Bevölkerung bestellt, deren Medianalter immer weiter steigt und in der der Anteil der über Siebzigjährigen in nicht zu ferner Zukunft größer sein wird als der Anteil der unter Zwanzigjährigen?

Vor allem aber: Wie verlässlich ist auch künftig die bislang so bewährte Problemlösungsstrategie nicht erklärter, ungeregelter Zuwanderung, wenn die Zuwanderer nicht nur aus immer ferneren Regionen kommen und sowohl kulturell als auch religiös immer fremder werden, sondern zugleich auch die aufnehmende Bevölkerung, bedingt durch zahlenmäßige Schrumpfung und zügige Alterung,  fragiler, ängstlicher und starrer wird? Eine abschließende Antwort dieser Frage steht noch aus, denn bisher hat es ein solches Szenario noch nie gegeben. Bisher erfolgte Zuwanderung in aller Regel in expandierende, junge und hochgradig anpassungsfähige Bevölkerungen hinein. Junge strömten zu Jungen, Hungrige zu Hungrigen, Unternehmungslustige zu Unternehmungslustigen. Junge Hungrige, die in großer Zahl in festgefügte und weithin erstarrte Sozialstaatsgebilde einzudringen versuchen - das ist historisch neu und unerprobt.

Wie immer man es wendet: Eine Bevölkerung, die sich generationenlang zu nur noch zwei Dritteln in der Zahl ihrer Kinder ersetzt und zugleich keine verlässliche Strategie entwickelt, wie es unter diesen Bedingungen weitergehen soll, sei es durch geordnete Zuwanderung, durch planvolle Schrumpfung oder durch die eigene Revitalisierung - eine solche Bevölkerung hat ein Problem. Bei ihr ist etwas Entscheidendes aus dem Ruder gelaufen. Ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ordnung hat sich zu einem unfruchtbaren Biotop entwickelt, biologisch und mental. Was aber ist die wirtschaftliche und soziale und darüber hinaus kulturelle Ordnung Deutschlands? Die Soziale Marktwirtschaft? Viele haben sich daran gewöhnt, das so zu sehen. Dabei hat schon Ludwig Erhard, der Bannerträger dieser Ordnung nach dem 2. Weltkrieg, gegen Ende seines Lebens resigniert festgestellt, in Deutschland habe es eine Soziale Marktwirtschaft, so wie sie einst gedacht worden sei, nie wirklich gegeben.

Drei Entwicklungen waren es insbesondere, die er wieder und wieder geißelte. Erstens, die einseitige und anhaltende Fokussierung von Gesellschaft, Staat und Individuum auf die Mehrung materiellen Wohlstands. "Maß halten", war sein Credo. Wirtschaftswachstum und materieller Wohlstand waren für ihn nur Mittel zum Zweck, immer nur Grundlage, nie aber Leitbild der Lebensgestaltung. Mit dem materiellen Wohlstandsniveau der 1960er Jahre war für ihn diese Grundlage geschaffen. Damals wurden pro Kopf etwa 40 Prozent der heutigen Gütermenge erwirtschaftet, doppelt so viel wie vor dem 2.Weltkrieg. Das, meinte er, reiche. Nunmehr galt es aus seiner Sicht, Sinnvolleres und Wertvolleres zu verwirklichen. Und er sagte auch was: bürgerschaftlicher, gesellschaftlicher Zusammenhalt. Zweitens kritisierte er, dass das Soziale der von ihm postulierten Ordnung zunehmend aus der Wirtschaft und Gesellschaft ausgewandert und zu einer Angelegenheit des Staates geworden sei. Das Subsidiaritätsprinzip sah er ausgehöhlt und den Staat mehr und mehr als Vormund unmündig gehaltener Bürger. So hatten sich seine Mitstreiter und er Soziale Marktwirtschaft nicht vorgestellt. Und drittens sah er den drohenden Verlust von Lebenssinn in einer Ordnung, wie sie sich schon in den 1960er Jahren entwickelt hatte. Er sah voraus, dass "der Aufwand an materiellen Mitteln, an Fleiß und körperlicher und geistiger Kraft sich nicht mehr lohnt" und der Einzelne sich sagt: "Das kann nicht der Sinn des Lebens sein".

Was aber dann? Eine Antwort auf diese Frage hat es seither nicht gegeben. Vielmehr entstand in einer Art Wildwuchs eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die sich ganz wesentlich auszeichnet durch eine im internationalen und historischen Vergleich hohe wirtschaftliche Produktivität und Prosperität, dank derer auch die wirtschaftlich Schwächsten in diesem Gemeinwesen noch zum wohlhabendsten  Fünftel der Menschheit gehören, sowie durch eine wiederum im historischen und internationalen Vergleich fast beispiellose Geburtenarmut. Deutschland ist seit geraumer Zeit eines der geburtenärmsten Länder der Welt. Ob und wie beides miteinander verknüpft ist, ist noch nicht abschließend geklärt. Aber die Klärung drängt. Denn eine Gesellschaft, die nur ihren materiellen Wohlstand mehrt, während zugleich ihr Bevölkerungsfundament zerbröselt, hat keine Zukunft.

Denkbar sind drei Szenarien und als viertes eine Verbindung dieser drei. Dabei haben alle diese Szenarien eine Gemeinsamkeit: Bei allen werden die vertraute Kultur- und Werteordnung tief umgepflügt und die Menschen vor große ungewohnte Herausforderungen gestellt. Einfach und bequem ist keines.

Das erste Szenario ist, dass für eine gewisse Zeit alles weiterläuft wie bisher, d.h. jährlich kommen einige hunderttausend Menschen zumeist nach dem Zufallsprinzip nach Deutschland und Europa, wo sie mehr oder weniger erfolgreich integriert werden. Ihre Zahl ist jedoch nicht groß genug, um den Schrumpfungs- und Alterungsprozess von Deutschen und Europäern aufzuhalten oder auch nur spürbar zu verlangsamen. Um dennoch einen wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang zu vermeiden, unternehmen die schrumpfenden und alternden Bevölkerungen (vielleicht) größte Anstrengungen, um mit den technischen und gegebenenfalls kulturellen Entwicklungen auf der Welt Schritt zu halten. Trotzdem werden sie marginalisiert. Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch 25 Prozent der Weltbevölkerung Europäer und zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch 11 Prozent, werden es nach den Hochrechnungen der Vereinten Nationen am Ende dieses Jahrhunderts noch 4 Prozent sein, von denen ein Viertel dunkelhäutig sein oder Mandelaugen haben dürfte.

Sehr wahrscheinlich ist dieses Szenario freilich nicht. Denn während Deutsche und Europäer sich auf dem demografischen Rückzug befinden, bersten die Bevölkerungszahlen in weiten Teilen der Welt, namentlich in Afrika. Dessen Bevölkerung wird sich zwischen 1970 und 2100 voraussichtlich verachtfachen, und dann auch etwa acht Mal so zahlreich sein wie die europäische. Und sie wird, vorbehaltlich nicht absehbarer technischer und ökonomischer Umwälzungen, im Vergleich zur Europäischen noch immer arm sein, möglicherweise sogar um ihr Überleben kämpfen. Was liegt da näher, als sich nach Europa aufzumachen? Da können die Europäer noch so sehr ihre Außengrenzen schützen. Das haben schon ganz andere versucht. Auf Dauer sind sie allesamt gescheitert. Setzen sich Völker in Bewegung, schützt kein Zaun und kein Schießbefehl. Wer Mittel, wie diese, propagiert, kennt weder die Geschichte noch die Entschlossenheit darbender Menschen.

Das zweite Szenario ist eine weit vorausschauende Zuwanderungspolitik, die es ermöglicht, in einigermaßen geordneten Bahnen das ablaufen zu lassen, was - ein wenig Zeit versetzt ohnehin - dann aber umso chaotischer ablaufen wird. Eine vorausschauende Zuwanderungspolitik eröffnet zumindest die Chance, die Völker Europas ein wenig zu stabilisieren und sie gegen Außendruck zu festigen. Allerdings wird es mit einigen Hunderttausend für Deutschland und wenigen Millionen für Europa nicht getan sein. Dazu ist der Erosionsprozess der Europäer zu weit fortgeschritten. Wollen sie in den Massenbewegungen der Zukunft bestehen, müssen sie sich bewusst und willentlich auf andere Kulturen, Religionen, Werte, Sitten und Gebräuche einlassen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Debatte um die Leitkultur spannend werden. Soviel ist nämlich sicher: Was immer die Leitkultur ist, sie wird es nicht bleiben.

Bleibt drittens, das Schwerste, aber auf Dauer wahrscheinlich Wirkungsvollste: die Verwirklichung einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die in den Worten Ludwig Erhards nicht länger danach strebt, "mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen", sondern "unter Verzichtsleistung auf diesen 'Fortschritt', mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung" oder kurz: eine menschengemäßere Gesellschaft zu gewinnen, eine Gesellschaft, in der sich auch Kinder und Alte, Tiere und Pflanzen wohlfühlen. Der Unterschied zu heute wäre beträchtlich und es ist keineswegs ausgemacht, ob die Europäer eine solche Neuorientierung physisch und psychisch verkraften. Zumal auch bei diesem Szenario am Ende eine andere als die gewohnte Kultur steht. Aber welche Wahl haben Deutsche und Europäer? In nicht sehr ferner Zukunft wird manifest werden, dass ihre biologischen Kräfte schwinden und sie sich in eine demografische Sackgasse manövriert haben. Sollten sie sich auch künftig verhalten, wie bei dem derzeitigen Vorspiel, wird es wohl keine Flüchtlingskrise mehr geben, sondern eine Krise der Europäer, eine Krise ihrer Zukunftsblindheit und Kleingeisterei.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung