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Abschied von einer Lebenslüge

Die gute Nachricht zuerst. Pro Kopf der Weltbevölkerung wird heute etwa ebenso viel erwirtschaftet, wie um 1950 in den entwickeltsten Ländern an Gütern und Diensten bereitgestellt worden ist. Das so genannte Weltsozialprodukt beziffert sich derzeit auf rund 47 Billionen Euro im Jahr, was bei sieben Milliarden Menschen knapp 6.700 Euro pro Kopf entspricht. Werden von diesem Betrag die Mittel abgezogen, die für Investitionen jedweder Art, für die Schaffung und den Unterhalt von Infrastruktur, für Bildung, Sicherheit und anderes mehr benötigt werden, dann verbleiben für den einzelnen im statistischen Mittel knapp 4.500 Euro jährlich bzw. rund 370 Euro im Monat - genau der Betrag, über den Briten, Franzosen oder Deutsche - im Geldwert von heute - in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Durchschnitt verfügten.

Und die noch bessere Nachricht: In entwickelten Ländern wie Deutschland braucht sich heute keiner mit so karger Kost begnügen. Selbst die Ärmsten, die Arbeitslosengeld II-, Sozialgeld- und Grundsicherungsempfänger, erhalten hier von ihren steuerzahlenden Mitbürgern einen mindestens doppelt so hohen Betrag, während diese selbst über durchschnittlich das fast Fünffache verfügen - reichlich 21.000 Euro im Jahr bzw. rund 1.800 Euro im Monat.

Das aber ist zugleich eine schlechte Nachricht für diejenigen, die nicht zum Kreis jener Hoch- und Höchstprivilegierten gehören. Denn was die einen mehr haben, haben die anderen weniger. Und das ist die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Sie bildet in der Terminologie des deutschen Sozialwissenschaftlers Werner Sombart eine dünne Bettelsuppe, auf der wir, die Völker der früh industrialisierten Länder, wie Fettaugen schwimmen. Ein Monatseinkommen von 370 Euro - davon können die meisten nur träumen.

Und die noch schlechtere Nachricht: Um auch nur eine solch dünne Bettelsuppe mit ein paar Fettaugen darauf köcheln zu können, müssen die halsbrecherischsten technischen Risiken eingegangen, natürliche Rohstoffe rigoros ausgebeutet, die Umwelt mit Schadstoffen überfrachtet, die Regenerationsfähigkeit der Erde überfordert sowie Individuen und Völker über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus beansprucht werden. Als geglückt oder gar zukunftsweisend dürfte eine solche Entwicklung kaum anzusehen sein.

Der Befund ist zwiespältig. Einerseits legt er nahe, große Wachstumsanstrengungen zu unternehmen, damit Milliarden von Menschen menschenwürdig leben können. Andererseits signalisiert er, dass unser derzeitiges Wissen und Können, aber auch die Solidarität und Moralität der Gesellschaft nicht ausreichen, um ohne große Schäden für Umwelt, Natur und Mensch den materiellen Wohlstand der ungezählten Armen dieser Welt spürbar zu heben. Die derzeitige Art des Wirtschaftens ist weithin Raubbau. Einer anderen Art nähern wir uns jedoch - wenn überhaupt - bislang nur in winzigen Trippelschritten.

Das Dilemma der Menschheit ist offensichtlich und könnte dramatischer nicht sein. Um ihren materiellen Wohlstand zu heben, ist sie drauf und dran, ihre Lebensgrundlagen zu beschädigen und vielleicht sogar zu zerstören. Um das zu sehen, brauchen die Völker der entwickelten Länder nur den Blick über ihre engen nationalen Egoismen zu heben. Dann bietet sich ihnen eine Sicht auf viele Milliarden, die keines unserer Luxusprobleme haben, sondern um das Notwendigste ringen.

Damit alle und nicht nur eine kleine Minderheit menschenwürdig leben können, sind innovative Durchbrüche nie gekannten Ausmaßes und zugleich eine neue Ethik erforderlich. Das bisherige Produzieren und Konsumieren ist zu primitiv und kostspielig, um die Menschheitsprobleme einer Lösung näher zu bringen. Aber auch intelligentere Wirtschafts- und Lebensformen werden dafür nicht ausreichen. Vielmehr muss Abschied genommen werden von der wohl größten Lebenslüge privilegierter Völker, die sich und der Welt generationenlang vorgegaukelt haben, alle könnten eines Tages leben wie sie, wenn sie sich nur entsprechend anstrengten. Die Wahrheit ist, dass das weder jetzt noch in absehbarer Zeit noch nach menschlichem Ermessen überhaupt möglich ist. Die Erde gibt es ganz einfach nicht her.

Doch wenn dem so ist, haben die Wohlhabenden dieser Welt gegenüber den anderen eine Rechtfertigungspflicht. Warum dürfen wir so viel mehr haben als andere? Und weil die Beantwortung dieser Frage immer schwieriger wird, wird in nicht zu ferner Zukunft geteilt werden müssen. Zur Erinnerung: Wenn es zum Teilen kommt, wird die Trennlinie zwischen denen, die geben können und müssen und denen, die nehmen dürfen, zwar nicht genau entlang jener 370 Euro-Marke monatlichen Einkommens verlaufen, die den derzeitigen globalen Durchschnittswert bezeichnet. Dazu sind die Lebensbedingungen zu unterschiedlich. Aber auch darüber sollte es keine Zweifel geben: Die Menschen in Ländern wie Deutschland gehören ausnahmslos zu den Wohlhabenden und Privilegierten dieser Welt. Dessen sollten sie sich bewusst sein, wenn demnächst wirklich Arme bei ihnen anpochen und mehr oder minder nachdrücklich fordern, wovon in den wohlhabenden Ländern ständig geredet wird: soziale Gerechtigkeit.

Meinhard Miegel, Vorstandsvorsitzender des Denkwerks Zukunft - Stiftung kulturelle Erneuerung