Zeit zu handeln


Übersicht 4-Referenten-Diskutanten

Wolfgang Lucht

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Wolfgang Lucht ist Erdsystemwissenschaftler und Nachhaltigkeitsforscher. Er leitet die Abteilung Erdsystemanalyse des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, ist Alexander-von-Humboldt-Professor für Nachhaltigkeitsforschung am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Mitglied der Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung. Seine Arbeiten betreffen die Entwicklung des Erdsystems, die Wechselwirkungen von Umwelt und Gesellschaften, planetare Belastungsgrenzen und transformative Umweltpolitk. Er trug als Autor zum 4. und 5. Sachstandsbericht des Weltklimarates bei und fungierte als Leitautor in dessen Sonderbericht zu erneuerbarer Energie. Lucht ist Mitglied des Deutschen Komitees für Future Earth der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Rates des Exzellenz-Zentrums für Transformationen in Mensch-Umwelt-Systemen der Humboldt-Universität zu Berlin.

Kurzstatement

Im Kern der sich entwickelnden Krise unserer Zeit steht die inzwischen sehr umfangreiche materielle Koppelung zwischen Umwelt und Gesellschaften durch jene sozial-metabolischen Prozesse, welche deren Wachstum, Vernetzung und interne Differenzierung weiter antreiben. Diese Koppelung beeinflusst die Dynamik der Erde als komplexem Planeten auf zunehmend fundamentale Weise, während gleichzeitig oft der Mythos genährt wird, dass die Gesellschaften der menschlichen Zivilisation mehr oder weniger ungebrochen durch diese Veränderungen hindurchsteuern könnten. Dies ist kaum wahrscheinlich, wie bereits der Club of Rome anzeigte, und wissenschaftlich gesehen eine weitgehend zumindest offene Frage. Die Zukunftsperspektiven des gesamten sozial-ökologischen Komplexes aus Erde und Menschheit stehen zur Debatte. Derzeit viel Aufmerksamkeit und zunehmend politische Wirksamkeit erhält das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen. Diese verbinden eine normative Betrachtung vorsorgender Risikobewertung mit einer naturwissenschaftlichen Analyse des Dynamik des Erdsystems und seiner Teilsysteme. Auf der planetaren, umweltlichen Seite sind die Erkenntnisse der letzten zehn Jahre mehr als nur Besorgnis erregend: Atmosphäre, Biosphäre und Ozeane sind infolge der sozial-metabolischen Stoffströme einer um Milliarden umfangreicheren, industrialisierten Menschheit der Gefahr tiefgreifender Destabilisierungen mit fundamentalen Folgen ausgesetzt. Auf der gesellschaftlichen Seite würde Fortschritt bei den großen Zeitfragen der Armutsbekämpfung, Teilhabe und des geopolitischen Friedens durch großskalige Umweltprobleme komplett unterminiert. Deshalb stehen wir heute vor der Frage, ob unsere Gesellschaften angesichts dieser Lage zu einer sozial-ökologischen Selbsterneuerung auf der Grundlage der planetaren Belastungsgrenzen und ihrer regionalen Entsprechungen in der Lage sind und welches die dafür nötigen Instrumente sind: von Fakten bis zu Narrativen der Identität. Die Aufgabe lautet, transformative Politik im politischen Prozess noch einmal anders als bisher zu legitimieren, implementieren und weiterzuentwickeln. Die Integration von Beschränkungen bei wichtigen Stoffströmen in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gesellschaften der Erde wird die entscheidende strukturelle Herausforderung sein. Es wäre die These zu wagen, dass es sich bei dieser Herausforderung um einen lange vernachlässigten Auftrag der europäischen Aufklärung handelt: nach der politischen und sozialen wäre die Frage der ökologischen Würde menschlicher Existenz zu behandeln.

Ausgewählte Veröffentlichungen

The world’s biggest gamble (mit Hans Joachim Schellnhuber u.a.), Earth's Future Journal (2016)

In welcher Zeit werden wir leben?, Heidelberg (2009)