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Herfried Münkler

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(Photo: Jan Konitzki) vergrößern

Herfried Münkler (Jg. 1951) studierte Germanistik, Politikwissenschaft sowie Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er später auch promovierte (1981) und habilitierte (1987). Seit 1992 ist er Professor für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Unter anderem befasst er sich mit dem Vergleich von Gesellschaften, sozialen Ordnungen im Wandel sowie internationaler Sicherheitspolitik. 2009 erhielt er für sein Buch „Die Deutschen und ihre Mythen" den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse.

Statement zum Diskussionsthema

Die Unumkehrbarkeit von Individualisierungsprozessen und die Chancen zur Abfe­derung dysfunktionaler Effekte von Individualismus

  1. Der Individualismus ist sicherlich auch eine Ideologie, aber zunächst ist er eine Folge der sozialen und regionalen Mobilität moderner Gesellschaften. Insofern stellt er einen Entwicklungspfad dar, der nicht so leicht verlassen werden kann, ohne dass dies mit einer umfassenden gesellschaftlichen (und vermutlich auch politischen) Regression verbunden ist.
  2. Der Individualismus wird zugleich abgefedert und verstärkt durch die Mecha­nismen des Wohlfahrtsstaates, der viele Aufgaben herkömmlicher Gemein­schaften (Familie, Sippe, Dorf) und der an sie gebundenen "moralischen Öko­nomie" (G.P. Thompson) übernommen hat.
  3. Gleichwohl hält sich auch in hochgradig individualisierten Gesellschaften ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, gemeinsamen Werten und auch gemeinsam be­wirtschafteten Gütern, das in unterschiedlicher Form befriedigt wird - von ro­mantischen Erinnerungen an frühere Zeiten über die Bildung von Kompensa­tionsgemeinschaften zum Individualismus bis zu kollektiven Regressionen - die "Ideen von 1914" waren eine solche Regression mit ihrer Absage an "Gesell­schaft" und der Erneuerung von "Gemeinschaft" (Tönnies, Simmel).
  4. Die „Entdeckung" der Zivilgesellschaft als intermediäre Einrichtung zwischen den Individualisierungsagenturen Staat und Markt ist eine der wichtigsten Ant­worten bei der Suche nach modernitäts- wie demokratiekompatiblen Kompen­sationen für die Defizite und Leerstellen des Individualismus. Es kommt darauf an, diese Zivilgesellschaft nicht mit Aufgaben zur Absicherung gegen Markt- und Staatsversagen zu überlasten, wozu die Politik neigt, sondern ihr eine eigene Entwicklungslogik in Reaktion auf die Anforderungen und Wünsche einer hoch individualisierten Gesellschaft zu ermöglichen.

Ausgewählte Veröffentlichungen:

Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Rowohlt Verlag, Berlin (2010)

Die Deutschen und ihre Mythen, Rowohlt Verlag, Berlin (2009)

Ausgewählte Zitate:

„Die Mitte gilt als ein Ort der Sicherheit und der Beständigkeit. Während links und rechts Gefahren drohen und sich die Avantgarde in unerkundete Gebiete vorwagt, verspricht die Mitte Ausgleich, Wohlstand, Frieden."

(in: Mitte und Maß, 2010)

"Maß ist noch gefährdeter als Mitte, weil die Dynamik einer kapitalistischen Ökonomie eigentlich ausgestellt ist auf Maßlosigkeit; wir sagen es ein bisschen vornehmer, wir nennen es Wachstum. Und es ist ungeheuer schwierig, dieses Maß in den Politikprozess und in die Entwicklung der Gesellschaft hineinzuführen, ohne sich in der unangenehmen Position des Sonntagsredners zu befinden, der, wenn die Büros einmal geschlossen sind und die Schornsteine nicht rauchen, über Mäßigung spricht."

(Im Deutschlandfunk-Interview, 27. September 2010)

„Tatsächlich ist man nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik keineswegs gänzlich ohne Mythen ausgekommen, nur waren diese nicht mehr auf die Politik, sondern auf den individuellen Wohlstand und dessen Zurschaustellung bezogen. [...] So verlagerte sich das Bedürfnis nach mythischer Narration und symbolischer Repräsentation von Politik und Staat auf Markt und Konsum."

(in: Die Deutschen und ihre Mythen, 2009)