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Die gegenwärtige und künftige Bedeutung von Essen und Trinken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland.

Studien über das Ernährungsverhalten der Bevölkerung haben seit geraumer Zeit Hochkonjunktur. In der Regel stehen dabei ernährungsphysiologische Fragen im Mittelpunkt. Bisher weniger untersucht wurden hingegen die sozialen Wirkungen von Essen und Trinken. Sie sind Gegenstand des Factbooks „Die gegenwärtige und künftige Bedeutung von Essen und Trinken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland", das das Denkwerk Zukunft im Auftrag des Nestlé Zukunftsforums erstellte.

Wichtige Ergebnisse:

1. Essen und Trinken haben große Bedeutung für Gemeinschaft
Zwischenmenschliche Beziehungen werden maßgeblich durch gemeinsame Aktivitäten und Erlebnisse gefestigt. Hierbei spielen Essen und Trinken seit je her eine große Rolle. 

2. Essen und Trinken haben vielfältige gemeinschaftsfördernde Funktionen
Als Gemeinschaftserlebnis erfüllen Mahlzeiten verschiedene Funktionen. Sie bieten Raum und Zeit für Gespräche mit dem Partner, Freunden oder Kollegen (Kommunikationsfunktion), dienen der Fürsorge und Erziehung von Kindern (Sozialisationsfunktion), können Defizite in anderen Lebensbereichen ausgleichen (Kompensationsfunktion) und psychisches und physisches Wohlbefinden fördern (Gesundheitsfunktion).

3. Die Menschen in Deutschland essen mehrheitlich gemeinsam
Die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland nutzt die gemeinschaftsfördernden Funktionen von Essen und Trinken. Hierzulande genießen fast neun von zehn Menschen Mahlzeiten besonders dann, wenn sie diese gemeinsam mit anderen einnehmen. Acht von zehn Menschen essen regelmäßig mindestens einmal täglich in Gesellschaft anderer. Überdurchschnittlich gilt dies für Menschen, die mit einem Partner zusammen leben, eine Familie haben und/oder über einen festen Freundes- und Bekanntenkreis verfügen.

4. Ausgenommen hiervon sind Menschen, die sozial schwach eingebunden sind
Dort allerdings, wo diese sozialen Netzwerke fehlen oder nur schwach ausgeprägt sind, ist die Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten deutlich geringer. Überdurchschnittlich trifft dies auf sozial schwache Familien, Alten- und Pflegeheimbewohner sowie Menschen, die alleine leben, zu. Von den über 60-jährigen Alleinlebenden isst sogar jeder zweite so gut wie immer alleine. Für sie haben Essen und Trinken den Charakter als Gemeinschaftserlebnis weitgehend eingebüßt. Auch Berufstätige essen zumindest unter der Woche häufiger als andere Bevölkerungsgruppen entweder alleine und/oder in einer gemeinschaftsabträglichen Atmosphäre.

5. Künftig dürfte die Bedeutung gemeinsamen Essens und Trinkens abnehmen
Zwar werden in Deutschland Essen und Trinken auch künftig maßgeblich dazu beitragen, zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen. Doch dürfte sich bei unveränderten Sicht- und Verhaltensweisen sowie institutionellen Rahmenbedingungen ihre Bedeutung hierfür weiter abschwächen. Denn während der Anteil der Bevölkerungsgruppen, die überdurchschnittlich oft gemeinschaftsfördernd essen und trinken, an der Gesamtbevölkerung zurückgeht, nimmt der Anteil der Bevölkerungsgruppen, die häufig alleine und/oder in einer gemeinschaftsabträglichen
Atmosphäre essen, zu:

  • Junge Paare und Familien mit Kindern werden auch künftig mehrheitlich die gemeinschaftsfördernden Potentiale von Essen und Trinken nutzen. Insbesondere gilt dies, wenn sie den sozial stärkeren Schichten angehören. Der Anteil junger Paare und Familien mit Kindern an der Gesamtbevölkerung geht allerdings dramatisch zurück.
  • In sozial schwachen Familien wird die Bedeutung gemeinsamen Essens und Trinkens aufgrund abnehmender eigener Erfahrungen und Kompetenzen tendenziell weiter zurückgehen. Gleichzeitig dürfte der Anteil sozial schwacher Familien an allen Familien größer werden.
  • Ältere Paare werden auch künftig weiterhin überwiegend gemeinsam essen. Ihre Zahl und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung steigen deutlich.
  • Ebenfalls steigen werden Zahl und Bevölkerungsanteil älterer Alleinlebender. Sie dürften weiterhin mehrheitlich fast vollständig von gemeinsamen Mahlzeiten ausgeschlossen sein.
  • Da immer mehr junge und vor allem Menschen im mittleren Lebensalter alleine leben und gleichzeitig die Risiken sozialer Isolation zunehmen, nimmt die Bedeutung gemeinsamen Essens und Trinkens in dieser Altersgruppe voraussichtlich weiter ab.
  • Noch mehr Berufstätige als heute werden aufgrund anhaltend hoher oder zunehmender Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen in einer gemeinschaftsabträglichen Atmosphäre essen.
  • Künftig wird der Bevölkerungsanteil, der regelmäßig in Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung isst, spürbar zunehmen. Vor allem gilt dies für Krip­pen‑, Kindergarten- und Schulkinder sowie Bewohner von Alten- und Pflegeheimen. Insbesondere für letztere dürfte sich dies unter gegebenen Bedingungen nachteilig auf gemeinsame Mahlzeiten auswirken.

6. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird geschwächt und soziale Kosten
steigen

Da künftig ein wachsender Anteil der Menschen überwiegend alleine und/oder in einer Atmosphäre isst, in der sich die gemeinschaftsfördernden Funktionen von Essen und Trinken nicht entfalten können, dürfte dies zwischenmenschliche Beziehungen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt schwächen. Zumindest gilt dies, solange der Verlust von Gemeinschaft beim Essen nicht durch einen Zugewinn von Gemeinschaft bei anderen Aktivitäten ausgeglichen wird. Genau dieser Ausgleich ist aber bei vielen der genannten Bevölkerungsgruppen nicht zu erwarten.
Unter anderem dürften hierdurch die Vereinsamung insbesondere von älteren Alleinlebenden sowie Alten- und Pflegeheimbewohnern zunehmen, Sozialkompetenzen und Sprachfähigkeiten junger Menschen vor allem aus sozial schwachen Schichten abnehmen, sich psychische und physische Erkrankungen häufen sowie soziale Polarisierungsprozesse verstärken. Eine Folge hiervon sind nicht zuletzt steigende gesellschaftliche Kosten.

7. Die gemeinschaftsfördernden Funktionen von Essen und Trinken können durch vielfältige Maßnahmen gestärkt werden
Deshalb sollte das Potential gemeinsamer Mahlzeiten für den gesellschaftlichen Zusammenhalt künftig stärker als bisher genutzt werden. Unter anderem bestehen hierfür folgende Handlungsoptionen:

  • Bewusstsein schaffen
    Indem eine breite öffentliche Debatte angestoßen und/oder bestimmte Zielgruppen direkt angesprochen und beraten werden, kann das Bewusstsein für die Bedeutung der gemeinschaftsstiftenden Funktionen von Essen und Trinken in der Bevölkerung insgesamt als auch bei wichtigen Akteuren gestärkt werden.
  • Angebote, Orte und Formate bereit stellen
    Für Problemgruppen sollten Angebote, Orte und Formate bereitgestellt bzw. entwickelt werden, damit sie häufiger an gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen können.
  • Gemeinschaftsverpflegung gemeinschaftsfördernd ausbauen
    Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung sowohl im betrieblichen und Bildungs- als auch im Heimbereich sollten gemeinschaftsfördernd ausgebaut werden.
  • Forschungslücken schließen
    Insgesamt ist der Kenntnisstand über die Bedeutung von Essen und Trinken für Gemeinschaft und sozialen Zusammenhalt nach wie vor lückenhaft. Je mehr Forschungslücken geschlossen werden, desto passgenauere Maßnahmen können entwickelt werden, um einer Schwächung gemeinsamer Esskultur in Deutschland entgegenzuwirken.

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