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Soziale Aufstiegsmöglichkeiten in Deutschland

In Deutschland sind die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten gemessen an der Einkommensmobilität zwar besser als ihr Ruf. Doch bestehen insbesondere bei den höheren Einkommens- und Bevölkerungsschichten erhebliche Aufstiegsbarrieren. Allerdings könnte der demographiebedingte Engpass an qualifizierten Fach- und Führungskräften die Gesellschaft mittelfristig durchlässiger machen. Trotzdem besteht grundsätzlicher Handlungsbedarf. Um ihn angemessen befriedigen zu können, sollten die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten in Deutschland noch eingehender untersucht und diskutiert werden.

Geringer Aufstiegsglaube in Deutschland

Die Bevölkerung schätzt die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten in Deutschland mehrheitlich kritisch ein. Zwar halten 41 Prozent der Bürger in Deutschland die Möglichkeiten, gesellschaftlich voran zu kommen für gut oder sehr gut. Doch bezeichnen 56 Prozent die Aufstiegschancen als weniger oder gar nicht gut. Der Rest ist unentschieden. Besonders gering werden die Aufstiegschancen von Personen bewertet, die sich eher den unteren Bevölkerungsschichten zugehörig fühlen. Hier stufen nur 29 Prozent die Möglichkeiten, sozial aufzusteigen, als gut oder sehr gut ein, während dies in den oberen Schichten mit 62 Prozent doppelt so viele tun (Tabelle 1).

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Noch schlechter werden die Aufstiegschancen von den unter 30-Jährigen aus wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsgruppen bewertet. Von ihnen sind nur 19 Prozent überzeugt, dass sozialer Aufstieg möglich ist. Über die Hälfte ist gegenteiliger Meinung. Ganz anders ist die Einschätzung beispielsweise in Schweden. Hier sind zwei Drittel der Jugendlichen aus wirtschaftlich schwächeren Schichten von der Möglichkeit sozial aufzusteigen überzeugt. Lediglich 28 Prozent halten sozialen Aufstieg für nur sehr schwer möglich.[1]

Tatsächliche Einkommensmobilität höher als gefühlt

Gemessen an der Einkommensmobilität sind die Aufstiegsmöglichkeiten in Deutschland etwas besser als sie von der Bevölkerung eingeschätzt werden. Zwar sind Einkommensaufstieg und sozialer Aufstieg nicht deckungsgleich, doch ist Einkommenszuwachs eine wichtige Dimension sozialer Mobilität. Daneben spielen Bildung, die Herkunft der Eltern, soziale Netzwerke, bestimmte Sicht- und Verhaltensweisen sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine Rolle.

Von 1995 bis 2007 stieg in Deutschland jeder Dritte in eine höhere Einkommensschicht auf. Werden diejenigen eliminiert, die sich im obersten Einkommensquintil befinden und deshalb nicht aufsteigen können, sind es 41 Prozent. Aus dem untersten Einkommensquintil stieg sogar reichlich jeder Zweite - meistens in die beiden nächst höheren Quintile - auf[2] (Vgl. Tabelle 2).

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Allerdings verschlechterten sich die Aufstiegsmöglichkeiten des untersten Einkommenquintils im Zeitablauf. Während hier von 1999 bis 2003 noch 46 Prozent in höhere Einkommensquintile aufsteigen konnten, war dies von 2003 bis 2007 nur noch bei 37 Prozent der Fall.

Besonders geringe Aufstiegschancen haben Arbeitslose und Erwerbspersonen ohne Berufsabschluss.[3] Auch die Haushaltsstruktur spielt eine Rolle.[4] Sozialer Abstieg bzw. fehlender Aufstieg ist häufig die Folge von Scheidungen und Trennungen oder anders gewendet: Die Zunahme von Ein-Personen-Haushalten und Alleinerziehenden beeinträchtigt die Aufstiegsbilanz.

Beim internationalen Vergleich der Aufstiegschancen schneidet Deutschland leicht unterdurchschnittlich ab. Während sich das unterste Einkommensquintil in Deutschland nur geringfügig unterhalb des OECD-Durchschnitts bewegt, weisen vor allem die beiden obersten Einkommensquintile eine geringere soziale Durchlässigkeit als in anderen früh industrialisierten Ländern auf (Tabelle 3).

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Die geringe soziale Durchlässigkeit höherer Einkommensgruppen bzw. oberer gesellschaftlicher Schichten zeigt sich auch bei der Rekrutierung von Spitzen- und Führungskräften. Noch heute gilt die Feststellung des Soziologen Ralf Dahrendorf aus den 1960er Jahren, dass die so genannten Funktions- und Stellungseliten überdurchschnittlich oft aus dem Bürgertum stammen.[5] Als am durchlässigsten werden die Eliten in Politik, Verwaltung und Wissenschaft angesehen. Hier sind Kinder der Arbeiterklasse und der breiten Mittelschichten fast so gut vertreten wie Kinder des so genannten Großbürgertums und deutlich besser als Kinder des gehobenen Bürgertums.[6] Dagegen ist die Wirtschaft immer noch  weitgehend ein "closed shop". Einer Untersuchung von 6.500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 zufolge besaßen Kinder - im wesentlichen handelt es sich um Söhne[7] - des Großbürgertums dreimal bessere Chancen auf eine Spitzenfunktion als Arbeitersöhne.[8] Bei der Elite im engeren Sinn wird dies noch deutlicher. Von den Hundert größten deutschen Unternehmen hat jeder zweite CEO großbürgerliche und jeder dritte bürgerliche Wurzeln. Aus der Mittelschicht bestehend aus einfachen Angestellten oder der Arbeiterschicht stammen lediglich 15 Prozent. Ähnlich ist die Herkunft der Vorstandsvorsitzenden der DAX-30-Unternehmen.[9]

Elternhaus für sozialen Aufstieg mitentscheidend

Die Ursachen für geringe soziale Aufstiegschancen und fehlende soziale Durchlässigkeit sind vielfältig. Sie liegen unter anderem in fehlenden Bildungsabschlüssen einschließlich Promotion, einem bildungsfernen Elternhaus, mangelndem Stallgeruch, fehlenden sozialen Netzwerken und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen begründet.

Unverzichtbare Attribute für sozialen Aufstieg sind individuelle Fähigkeiten und Leistungen. Sie sind nicht nur Voraussetzung, sich erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und Einkommenszuwächse zu erzielen, sondern auch um eine Spitzenposition zu erlangen. Allerdings hängt in Deutschland der Zugang zu Bildung und insbesondere zum Hochschulstudium nach wie vor stark vom Elternhaus ab. In kaum einem anderem früh industrialisierten Land werden Erfolge im Bildungssystem so stark durch die soziale Herkunft bestimmt. Bereits beim Übergang in die weiterführende Schule dominieren die Kinder aus höheren gesellschaftlichen Schichten und Einkommensgruppen. Schüler, deren Väter über keinen Schulabschluss verfügen, müssen beim Übergang in weiterführende Schulen häufig bessere Schulleistungen vorweisen als Kinder, deren Väter die Hochschulreife erworben haben.[10] Folglich ist es nicht verwunderlich, dass von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 77 studieren, während von 100 Kindern aus Facharbeiterfamilien lediglich 23 ein Studium aufnehmen.[11] Haben Angehörige bildungsfernerer Bevölkerungsgruppen die Aufnahme in die Universität geschafft, müssen sie ihr Studium doppelt so häufig durch eine Beschäftigung finanzieren als Bürgerkinder oder Kinder aus Akademikerfamilien. Deshalb ist es auch wenig überraschend, dass der Anteil von Facharbeiterkindern unter den Langzeitstudenten doppelt so hoch ist wie von Kindern aus Akademikerfamilien.[12]

Noch deutlicher wird die soziale Selektion, wenn die Herkunft derjenigen betrachtet wird, die promoviert haben. Über die Hälfte von ihnen stammt aus dem Bürgertum. Bei den unter den Spitzenpositionen überdurchschnittlich vertretenen Fächern Ingenieurwissenschaften, Jura und Wirtschaftswissenschaften sind es sogar rund 60 Prozent.[13] Zwar war dieser Anteil früher noch höher, doch ist der Zusammenhang zwischen Bildung und Elternhaus in Deutschland weiterhin groß.

In der Wirtschaft ist das Beherrschen gewisser Regeln für den Aufstieg unverzichtbar

Fähigkeiten und Leistungen reichen jedoch häufig nicht aus, um in Führungs- und Spitzenpositionen vorzustoßen. Insbesondere im Bereich der Wirtschaft fehlen vielen potentiellen sozialen Aufsteigern spezifische Sicht- und Verhaltensweisen, die sie als Angehörige der Wirtschaftselite ausweisen. Sie umfassen dem Soziologen Michael Hartmann zufolge[14] vor allem die Kenntnis der dort gepflegten Dress- und Benimmcodes, eine breite Allgemeinbildung - die allerdings so breit häufig nicht ist -, unternehmerisches Denken sowie persönliche Souveränität im Auftreten und Verhalten, die mit einer optimistischen Grundhaltung und einem gewissen Streben nach Macht gepaart sein sollte. Diejenigen, die diese Sicht- und Verhaltensweisen pflegen und die subtilen Spielregeln der Macht behrrschen, bilden ein dichtes Netzwerk, in das nur wenige Außenstehende vorzudringen vermögen. So sind einer Umfrage zufolge 70 Prozent der Top-Manager überzeugt, dass das soziale Netzwerk bei der Beförderung eine entscheidende Rolle spielt.[15] Die Netzwerke der "Old Boys" schrecken jedoch nicht wenige potentielle Aufsteiger ab. Die Folge sind zu wenige Querdenker und innovative Ideen in den Unternehmen sowie Frust und Defätismus auf Seiten der potentiellen Aufsteiger.

Besonders schwer ist es für Migranten, in Deutschland gesellschaftlich aufzusteigen, da sie häufig weder über die erforderliche Unterstützung im Bildungssystem noch über Mentoren bei der Einübung des dominierenden Habitus verfügen.

Aufstiegschancen verbessern

Für soziale Aufstiegschancen sind viele verantwortlich: Wissenschaft, Verwaltung sowie Wirtschaft und Politik, aber auch die potentiellen Aufsteiger, die sie ergreifen müssen. Die Politik ist gleich in mehreren Bereichen gefordert: der Familien- und Frauenpolitik, der klassischen Sozialpolitik, der Integrationspolitik von Migranten und vor allem der Bildungspolitik. So muss beispielsweise schon die frühkindliche Bildung darauf ausgerichtet sein, die aufstiegshemmende Verbindung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu durchbrechen. Zwar werden mittlerweile viele Aufstiegsstipendien an Fachkräfte vergeben und Begabtenförderwerke für Muslime unterstützt,[16] doch muss sozialer Aufstieg generell zum gesellschaftlichen Ziel werden.

Voraussetzung hierfür ist, dass soziale Durchlässigkeit bei Wirtschaft und Politik einen höheren Stellenwert einnimmt. Da 57 Prozent der Führungsspitzen der Politik und 85 Prozent der Führungsspitzen der Wirtschaft die deutsche Gesellschaft für ausreichend durchlässig halten,[17] ist das Thema nicht auf der Agenda. In Zeiten demographischen Wandels ist eine gezielte Aufstiegspolitik, die vor allem auch die Migranten einschließt, jedoch unverzichtbar. So kann die Möglichkeit, sozial auf- oder abzusteigen, erhebliche Kräfte in einer Gesellschaft freisetzen. In undurchlässigen Gesellschaften sind dagegen häufig Fatalismus und Versorgungsmentalität anzutreffen.

Aufstieg wofür?

Aufstiegspolitik darf jedoch nicht nur auf materiellen Aufstieg abzielen, sondern sollte auch immaterielle Wohlstandsdimensionen wie Verantwortung für das gemeine Wohl, den Schutz von Natur und Umwelt sowie die Sorge für die gesundheitlich und wirtschaftlich Schwachen umfassen. Gesellschaft und Politik sollten darauf hinwirken, dass diese Kriterien bei der künftigen Definition von Eliten eine prominente Rolle spielen. Darüber hinaus gilt: Je höher der Einzelne gesellschaftlich aufsteigt, desto mehr sollte er durch soziales Engagement oder ökologisch nachhaltiges Verhalten und materiell bescheidene Lebensführung in Erscheinung treten.

(Stand: 30. Juli 2013, Stefanie Wahl)

 


[1]   IfD Allensbach/Bild der Frau (2011), Chancengerechtigkeit durch Förderung von Kindern - ein deutsch-schwedischer Vergleich, Kernbefunde, S. 3, URL: http://www.axelspringer.de/dl/21/14565526/BILD_der_FRAU_Studie_Chancengerechtigkeit_Zusammenfassung.pdf.

[2]   Vgl. Neumann, M./Schäfer, H./Schmidt, J. (2010), Recht auf Aufstieg, Roman-Herzog-Institut, S. 13 ff., URL: http://www.romanherzoginstitut.de/uploads/tx_mspublication/RHI-Diskussion_Nr._13.pdf.

[3]   Vgl. a.a.O., S. 16 f.

[4]   Vgl. a.a.O., S. 14.

[5]   Vgl. Dahrendorf, R. (1962), Eine neue deutsche Oberschicht. Notizen über die Eliten der Bundesrepublik, in: Die neue Gesellschaft 9, S. 21, URL: http://library.fes.de/cgi-bin/neuges.pl?id=05170&dok=1962&f=1962_0018&l=1962_0031&c=1962_0021.

[6]   Eine Ausnahme bildet die Wissenschaft. Hier machen Kinder aus dem Großbürgertum seltener Karriere als Kinder von Arbeitern, aus der Mittelschichten sowie aus dem gehobenen Bürgertum. Vgl. Hartmann, M. (2004), Eliten in Deutschland. Rekrutierungswege und Karrierepfade, in: Aus Poltik und Zeitgeschichte B 10, S. 20, URL: http://www.math.uni-bielefeld.de/~philfahr/documents/Hartmann.pdf.

[7]   Mädchen waren unter den untersuchten Personen kaum vertreten.

[8]   Vgl. a.a.O.

[9]   Vgl. Schlesiger, C. (2008), Wo, bitte, geht's zur Elite?, in: Handelsblatt 30.03.2008, S. 1f., URL: http://www.handelsblatt.com/karriere/nachrichten/sozialer-aufstieg-wo-bitte-gehts-zur-elite/2940290.html.

[10] Vgl. Hartmann (2004), S. 19.

[11] Vgl. Middendorff, E. u.a. (2013), Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012, 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung, S. 12, URL: http://www.studentenwerke.de/pdf/20-SE-Bericht.pdf.

[12] Vgl. Hartmann (2004), S. 21.

[13] Vgl. a.a.O.

[14] Vgl. a.a.O.

[15] Vgl. Schlesiger (2008), S. 3.

[16] Vgl. BMBF (2013), 5000 Aufstiegsstipendien vergeben, Pressemitteilung vom 13. Mai, URL: http://www.bmbf.de/press/3453.php sowie Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2013), Interkultureller Dialog. Begabtenförderung für Muslime, Pressemitteilung vom 16. Juli, URL: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2013/07/2013-07-16-muslimisches-studienwerk-avicenna.html.

[17] Vgl. Koecher, R. (2008), Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste, in: Kauder V./ von Beust, O. (Hrsg.) (2008), Chancen für alle. Die Perspektive der Aufstiegsgesellschaft, URL: http://www.kas.de/upload/dokumente/verlagspublikationen/Chancen_fuer_alle/Chancen_koecher.pdf.