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Wachstum - Wohlstand - Lebensqualität

 Beitrag von Meinhard Miegel für Urbo Kune

Köln/Wien Mai 2015

 

Wachstum und Wohlstand bildeten zusammen mit Lebensqualität über Generationen hinweg einen harmonischen Dreiklang. Mit dem Wachstum der Wirtschaft erhöhte sich der materielle Wohlstand und mit diesem die Lebensqualität breiter Bevölkerungsschichten. Doch seit einiger Zeit wird dieser einstige Wohlklang immer dissonanter. Nicht nur fragen sich immer mehr Menschen, ob das Wachstum noch länger ihren Wohlstand mehrt, sondern auch, ob mehr materieller Wohlstand zugleich mehr Lebensqualität bedeutet.

Die Fragen kommen nicht von ungefähr. Je länger je mehr wird nämlich deutlich, dass zwar die Wirtschaft wächst, der materielle Wohlstand breiter Schichten jedoch stagniert und weithin sogar sinkt. Dies hat vor allem zwei Gründe. Zum einen ist in den zurückliegenden Jahrzehnten die Verteilung des Erwirtschafteten immer ungleicher geworden. Profitiert hat nur das wirtschaftlich stärkste Zehnte oder allenfalls Fünftel. Die übrige Bevölkerung konnte ihren wirtschaftlichen Status bestenfalls halten und oft - was insbesondere auf die wirtschaftlich Schwächeren zutrifft - noch nicht einmal das. Zum anderen lässt sich nicht länger übersehen, dass Wachstum ambivalent ist. Es lässt nicht nur Werte entstehen. Es vernichtet sie auch. Dabei ist zunehmend ungewiss, was überwiegt - die Vor- oder Nachteile. Werden beide sorgsam gegeneinander abgewogen spricht vieles dafür, dass zumindest die hochentwickelten Volkswirtschaften in Europa und anderen Teilen der Welt in eine Phase eingetreten sind, in der sie sich "arm" wachsen. Wirtschaftswachstum und materielle Wohlstandsmehrung haben sich entkoppelt.

Zunehmend entkoppelt haben sich aber auch materielle Wohlstandsmehrung und Lebensqualität. Ein engerer Zusammenhang besteht nur noch bei Bevölkerungs-schichten, deren Grundbedürfnisse nicht hinlänglich befriedigt sind. Das heißt nicht, dass nicht auch Wohlhabendere gerne eine weitere Mehrung ihres materiellen Wohlstands mitnehmen. Aber ihre Lebensqualität, geschweige denn ihre Lebens-zufriedenheit, erhöht sich dadurch - wenn überhaupt - kaum noch. Die zunächst paradox erscheinende Folge: Mexikaner oder Kolumbianer einerseits und Schweden oder Schweizer andererseits unterscheiden sich nicht in ihrer Lebenszufriedenheit, obwohl ihr materieller Wohlstand sehr unterschiedlich ist.

Das stellt die Bevölkerung der früh industrialisierten, also der entwickelten Länder vor die Frage: Wofür sollen wir uns entscheiden? Für weiteres Wachstum, dessen Wi-rkungen auf materiellen Wohlstand und erst recht auf Lebensqualität ungewiss sind oder für einen Wohlstand, dessen Quellen nicht vorrangig materielle Gütermehrung ist, sondern verstärkt immaterieller Natur sind.

Bislang ist das Votum der Mehrheit recht eindeutig. Trotz aller gegenteiligen Erfahrungen, die sie seit Jahrzehnten sammelt, folgt sie vorerst weiter ihrer historischen Prägung, die da ist: Wachstum ist gut, ja unverzichtbar, denn ohne Wachstum - so die deutsche Bundeskanzlerin - keine Investitionen, keine sicheren Arbeitsplätze, keine verlässliche soziale Sicherung, keine guten Ausbildungsplätze, keine ausreichende Hilfe für die Armen und vieles andere mehr. Gefangen in diesem Wachstumsdenken und mehr noch Wachstumsempfinden verdrängt die Mehrheit dessen Konsequenzen: Klimawandel, schmelzende Polkappen und Gletscher, schwindende Süßwasserreserven, sich ausbreitende Wüsten, abnehmende Bodenfruchtbarkeit, rasanter Verlust von Biodiversität, Zunahme an Wetteranomalien, kurz alles was die Menschheit seit Jahren beschäftigt oder richtiger beschäftigen müsste, wenn sie ihre Lage einigermaßen realistisch sehen würde. Aber viele wollen von alledem nichts hören. Da sie nur gelernt haben, unter Bedingungen ständiger Expansion zu leben und Herausforderungen jedweder Art zu meistern, halten sie zäh am Tradierten fest, obgleich sie verstandesmäßig erkannt haben, dass das keine Zukunft hat. Sie leben nach dem Motto: Es gibt keine Alternative zu wirtschaftlichem Wachstum, auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass es uns umbringt. Einerseits haben sie begriffen, dass der Preis dieses Wachstums mit oder ohne materielle Wohlstandsmehrung unbezahlbar hoch geworden ist. Andererseits trotten sie weiter auf dem bisherigen Weg, wohl auch, weil sie einen anderen bisher nicht gefunden haben.

Der Befund ist eindeutig: Eine menschheitsgeschichtlich beispiellose Menge an materiellen und kommerziellen Gütern steht einer nicht minder beispiellos erschöpften Welt und Menschheit gegenüber und von Jahr zu Jahr wird deutlicher, dass der auf materielles Wachstum gründende materielle Wohlstand die Wohlstandsform einer historischen Epoche war, die zumindest in den früh industrialisierten Ländern im Laufe der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts zu Ende gegangen ist. Seitdem ist die weitere Wohlstandsmehrung mehr Illusion als Wirklichkeit. Voraussetzung dieser weiteren Mehrung ist forcierter Raubbau sowohl an den nicht erneuerbaren Ressourcen wie Kohle, Öl, Erze und anderes mehr - ihr Verbrauch hat sich in den zurückliegenden 40 Jahren um mehr als 150 Prozent erhöht - als auch an den erneuerbaren Ressourcen. Bislang hat es kein einziges Volk vermocht, ein gewisses Wohlstandsniveau zu erklimmen, sprich eine durchschnittliche Lebenserwartung von 70 Jahren zu erreichen, einen durchschnittlichen Schulbesuch von mindestens sieben Jahren zu ermöglichen und pro Kopf Güter und Dienste von mindestens rund 10.000 US-Dollar im Jahr zu erwirtschaften, ohne zugleich die ökologischen Tragfähigkeitsgrenzen der Erde zu überschreiten. Kein einziges wirtschaftlich entwickeltes Volk wirtschaftet nachhaltig. Um so zu wirtschaften, wie beispielsweise die Deutschen, bräuchte die Menschheit 2,6 Globen, um so zu wirtschaften wie die Österreicher oder die Schweizer knapp drei Globen und die Amerikaner benötigen gar mehr als vier Globen. Derzeit beansprucht die Menschheit insgesamt dank zahlreicher noch wenig entwickelter Völker "nur" 1,5 Globen. Bereits 2030 werden es zwei und 2050 2,6 Globen sein. Dass dies ein auf Dauer unhaltbarer Zustand ist, versteht sich von selbst.

Aber auch die Überforderung der Erde reicht noch nicht, um so produzieren und konsumieren zu können, wie dies zahlreiche Völker der Erde namentlich aber die Europäer seit geraumer Zeit tun. Überfordert wird auch die Zukunft. Das Instrument hierfür: Schulden. Trotz aller materiellen Wohlhabenheit befinden sich viele Individuen, Völker und die Weltbevölkerung insgesamt in einem Schuldenrausch, dem sie schadlos nicht mehr entkommen können. Allein in den zurückliegenden 15 Jahren ist die globale Schuldenlast von 80 auf weit über 200 Billionen US-Dollar gestiegen. Und nicht nur die Griechen erklären mittlerweile freimütig, dass sie ihre Schulden nie mehr werden begleichen können. Entstanden ist eine neue Form von Schuldknechtschaft. Nachhaltiger Wohlstand ist aus alledem nicht erwachsen und er konnte auch nicht erwachsen, weil ein Wohlstand, der in einer begrenzten Welt auf finalem Verbrauch beruht, zeitlich eng befristet ist.

Für die Europäer, und nicht nur für sie, ist es Zeit zu begreifen, dass Wohlstand im 21. Jahrhundert von anderer Art sein muss, als er im 19. und 20. Jahrhundert war. Die Fixierung auf wirtschaftliche Wachstumsraten als Wohlstandsindikatoren und die Gewichtung von Völkern und Nationen nach ihrer Fähigkeit, ein möglichst hohes Pro-Kopf-BIP zu erwirtschaften, haben ausgedient. Genauer: Nicht die Größe des Pro-Kopf-BIP darf künftig maßgeblich für die Bewertung der Wirtschaftskraft eines Volkes sein, sondern das Pro-Kopf-BIP, das innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde erwirtschaftet wird. Bei diesem Wettstreit dürften die heute als entwickelt geltenden Länder auf absehbare Zeit schlechte Karten haben. Zwar erwirtschaften sie viel, aber sie wirtschaften - trotz einiger Fortschritte - noch immer viel zu vergeudend. Sie müssen erst noch lernen, dass Wohlstand in Zukunft nicht heißt viel zu haben, sondern wenig zu benötigen. Wenn sie das erst einmal erkannt haben, werden sie ein Weniger an materiellem Wohlstand auch nicht als Verlust oder Verzicht empfinden. Denn wenn sie das Wenige, was sie benötigen, haben - und dafür sollte Sorge getragen sein - verzichten sie ja auf nichts. Im Gegenteil. Nach und nach dürften sie die abnehmende Fixierung auf Materielles als eine Befreiung empfinden, etwas, das ihre Köpfe und ihre Hände frei macht für Lohnenderes.

Dies ist nicht zuletzt ein Grundmotiv aller Weltreligionen, besonders aber des Christentums. Nicht die Anhäufung irdischer materieller Güter ist die Seins-Bestimmung des Menschen, sondern der Erwerb geistiger immaterieller Güter. Jeder Einzelne muss sich fragen: Was benötige ich, was will ich wirklich? Die Antworten hierauf werden unterschiedlich ausfallen. Viele werden sie aber erst suchen müssen. Denn seit ihrer Geburt wurden ihnen zahllose Bedürfnisse einfach übergestülpt bis sie schließlich glaubten: So lebt der Mensch. Doch lebt er wirklich so, muss er so leben? Für die Zukunft muss jeder nach reiflicher Überlegung entscheiden: Was ist mir persönlich wichtig? Wieviel ist mir dieser oder jener materielle Besitz wert? Möchte ich, dass mein gesellschaftlicher Status vorrangig durch materiellen Besitz bestimmt wird, oder habe ich auch anderes anzubieten? Welche Schäden an Natur, Umwelt, Mensch und Gesellschaft bin ich bereit für meinen materiellen Wohlstand hinzunehmen? Und schließlich: Wofür will ich meine Zeit, meine Kraft und letztendlich mein Leben einsetzen? Ist es wert, dass ich für dies oder jenes lebe?

Bei der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen mag helfen, die Gründe für das derzeitig dominante Verhalten aufzuspüren. Vordergründig sind sie oft banal: Freude, Spaß, Lustgewinn; aber auch Prestige, Macht. Hinzu kommt vor allem in demokratischen Gesellschaften das Streben nach Gleichheit, dem im materiellen Bereich leichter genügt werden kann als in Bereichen wie Bildung, Gelehrsamkeit, Kunst oder gar Weisheit. Hinter allem stehen jedoch ideologische Gründe, die zum Teil schon religiösen Charakter haben: Der Seins-Grund westlicher Gesellschaften ist der materiell möglichst grenzenlose Konsum, oder wie die Amerikaner in prägnanter Kürze sagen: zu leben, um einkaufen zu gehen. Doch kann das die Materialschlachten an Feiertagen, die Übermotorisierung und Übermobilität, die wenig genutzten Zweit- und Drittwohnungen oder die Berge von Kleidern und Schuhen, die manche ihr Eigen nennen oder kurz: kann das die Zerstörung der Lebensgrundlagen für uns und die Nachgeborenen rechtfertigen?

So gefragt werden die Meisten mit "nein" antworten. Wie aber soll dann der Wohlstand der Zukunft aussehen? Die einfache Antwort: weniger materiell und mehr immateriell. Wohlstand muss darin bestehen, nicht ständig neue Dinge zu produzieren, sondern Produziertes besser und das heißt auch intensiver zu nutzen: Dinge nutzen, Sinne nutzen, Zeit nutzen. Nutzen jedoch nicht nur im Sinne von Gebrauchen, sondern mehr noch im Sinne von Genießen. Zeit genießen, das heißt beispielsweise auch müßig sein zu können. Immaterieller Wohlstand das ist ferner in Dinge einzutauchen, die größer sind als wir selbst - die Kunst, die Natur. Hier hat Europa große Schätze anzubieten.

Wir Europäer waren es, die mit Anbruch der Moderne zunächst uns selbst und dann der ganzen Welt eine Blaupause vorgegeben haben, die auf Entgrenzung abzielte. Auf dem Weg dieser Entgrenzung sind nicht nur wir, sondern mittlerweile die ganze Menschheit weit vorangeschritten. Die Erfolge dieses Kurses sind eindrucksvoll, doch jetzt wird deutlich: er führt in eine Sackgasse. Könnte, sollte es nicht die Aufgabe der Europäer sein, nunmehr eine neue Blaupause zu zeichnen, die der Natur und den Bedürfnissen der Menschen gemäß ist, ohne zugleich ihre Lebensgrundlagen zu zerstören? Die Herausforderung ist beträchtlich, aber durchaus zu meistern.

 

Quelle: Urbo Kune