Zeit zu handeln


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Die unerhörte Idee vom Ende des Wachstums

Welt am Sonntag, 10. Mai 2009

von Meinhard Miegel

Auch unter Bedingungen wirtschaftlichen Stillstands müssen Sozialsysteme und freiheitliche Demokratie funktioneren. Wie dies möglich ist, muss jetzt erarbeitet werden.

Sollte es eines Beweises bedurft haben, die Wirtschaftskrise hätte ihn schlagend erbracht. Große Teile der Welt, an ihrer Spitze Europa, Nordamerika, Japan, Australien, hängen am Wirtschaftswachstum wie Alkoholiker an der Flasche. Stockt der Nachschub, werden sie von Panikattacken befallen und existenziellen Ängsten geplagt.

Die Wirtschaft muss wachsen, fortwährend wachsen. Tut sie das einmal nicht, werden unverzüglich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie wieder zum Wachsen zu bringen. Hinter diesem Ziel muss alles andere zurücktreten: ausgeglichene öffentliche Haushalte, Generationengerechtigkeit, Umwelt- und Klimaschutz, offene Märkte, internationale Solidarität, ordnungspolitische Grundsätze. Hierin sind sich nicht nur Parteien und Politiker, sondern auch eine breite Öffentlichkeit weitgehend einig.

„Ohne wirtschaftliches Wachstum kann Deutschland nicht überleben“, befürchteten in einer unlängst durchgeführten Befragung 73 Prozent der Bevölkerung. „Ohne Wachstum ist alles nicht“, sagten 61 Prozent. Wachstum gilt vielen als unabdingbare Voraussetzung für eine befriedigende Beschäftigungslage, funktionierende soziale Sicherungssysteme, geringe öffentliche Schulden und eine stabile demokratische Ordnung. Wohl und Wehe der meisten Völker der Erde hängen am Wirtschaftswachstum.

Es hinge dort gut, wenn irgendeine Macht stetiges Wachstum gewährleisten könnte. Die Politik tut so, als sei sie diese Macht. Selbstbewusst stellte sie das jüngste Gipfeltreffen der 20 größten Industrienationen unter das Motto „Stabilität, Wachstum, Arbeitsplätze“. Aber was vermag sie wirklich?

Dass die Phase eines menschheitsgeschichtlich einzigartigen Wirtschaftswachstums zumindest in den früh industrialisierten Ländern auf absehbare Zeit vorüber ist, bezweifeln nur noch diejenigen, die ihre Augen fest vor der Wirklichkeit verschließen. Alle anderen müssten erkennen, dass die bis jetzt prägenden Nachkriegsjahrzehnte, in denen sich binnen einer Generation die pro Kopf erwirtschaftete Güter- und Dienstemenge real verdreifachte, eine absolute Ausnahmezeit waren. Sie neigte sich schon in den 70er-Jahren ihrem Ende zu.

Politiker stemmten sich dagegen. Sie fassten heroische Beschlüsse wider sinkende Zuwachsraten, sie beschworen die Bevölkerungen, mehr zu konsumieren, viele griffen zum riskanten Instrument steuerfinanzierter Konjunkturprogramme. Die abebbende Wirtschaftsdynamik war ihnen eine Krankheit, gegen die sie alle Abwehrkräfte zu mobilisieren suchten.

Nachhaltig erfolgreich waren sie nicht. Wie an einer Schnur gezogen verminderten sich in der Mehrzahl der industrialisierten Länder von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunächst die Wachstumsraten, dann die absoluten Zuwächse. Wo dies nicht geschah, wie in den USA oder Großbritannien, war der Preis hoch. Im Grunde zahlen wir in der heutigen Krise für den abermals fehlgeschlagenen Versuch dieser Länder, durch das Aufschäumen von Geldmengen Wachstums- und Wohlstandsillusionen zu erzeugen, die von Anbeginn keine Substanz hatten.

Wenn uns diese Krise etwas lehren kann und lehren sollte, dann dies: Alle Bemühungen, gegen stabile historische Trends Wachstum erzeugen zu wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Viel zu lange haben sich die Industriestaaten mit ihrer grobschlächtigen Wachstumspolitik mehr geschadet als genutzt. Das heißt nicht, dass das Wachstum der Wirtschaft nicht wünschens- und erstrebenswert sei. Aber Wachstum um jeden Preis ist töricht. Es gibt historische Phasen, in denen sich die Wirtschaft nur recht verhalten entwickeln kann. In einer solchen Phase befinden wir uns jetzt.

Um das zu erkennen, bedarf es keiner philosophisch-physikalischen Diskurse über die Möglichkeit unendlichen Wachstums in einer endlichen Welt. Elementarer und unmittelbarer ist die Einsicht, dass der historische Wachstumsschub in den industrialisierten Ländern den fast unbeschränkten Zugriff eines kleinen Teils der Menschheit auf die Versorgungs- und Entsorgungskapazitäten der Erde zur Voraussetzung hatte. Diese Voraussetzung ist entfallen.

Anders als in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, bedient sich heute die Mehrheit der Weltbevölkerung – und ihre Zahl schwillt täglich an – der Schätze der Natur. Entsprechend knapp und teuer werden Rohstoffe, fossile Energieträger und Nahrungsmittel. Die Schlagzeilen nach dem Ende der derzeitigen Krise sind vorhersehbar: „Drastische Ölpreiserhöhung würgt konjunkturelle Erholung ab“, „Klimaveränderungen führen zu Wachstumseinbußen“, „Arme zwingen Reiche zum Verzicht“. Zwar dürfen wir hoffen, dass die Engpässe dank innovativer Durchbrüche überwunden können werden. Doch das kann dauern.

Hinzu kommt, dass in den meisten früh industrialisierten Ländern schon bald keine wirklich wirtschaftsdynamischen Völker mehr leben werden, sondern Völker, die aufgrund ihrer hohen Altenanteile und ihres nicht minder hohen materiellen Wohlstands nicht zu Abenteuern und sei es das Abenteuer wirtschaftlicher Expansion aufgelegt sind. Was sie mit allen Fasern suchen ist Muße, Ruhe, Vorhersehbarkeit und vor allem Sicherheit.

Eher sind sie bereit, eine Schmälerung ihres materiellen Wohlstands hinzunehmen als sich in Kräfte zehrende Wettbewerbsschlachten mit aufstrebenden Volkswirtschaften zu stürzen. Man mag dagegen aufbegehren oder nicht: Die Menschen, die einst den großen Wachstumsschub bewirkten, gibt es kaum noch, weder physisch noch psychisch. An ihre Stelle sind andere getreten, die wohl noch sagen mögen „ohne Wachstum ist alles nichts“– die aber nicht daran denken, sich auch so zu verhalten.

Die Industrienationen befinden sich damit in einer heiklen Lage. Ihr Wohle und Wehe wie bisher von Wirtschaftswachstum abhängig zu machen ist tollkühn. Denn weder sind sie in der Lage, noch sind sie mental dazu bereit, dieses Wachstum zu erzeugen. Politik, die dem nicht Rechnung trägt, handelt verantwortungslos. Sie mag weiter das Wachstum der Wirtschaft nach Kräften fördern. Doch wenn es ausbleibt, darf sie nicht mit leeren Händen dastehen. Auch unter Bedingungen wirtschaftlichen Stillstands und selbst Rückgangs müssen Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme, öffentliche Haushalte und freiheitliche Demokratie funktionieren. Wie dies möglich ist, muss jetzt erarbeitet werden.

Bislang hat die Politik hierzu keinen Beitrag geleistet. Stattdessen hat sie blind darauf vertraut, dass die Wirtschaft stets um so viel wächst, wie sie zur Aufrechterhaltung politischer Stabilität benötigt. Dieses Vertrauen hat jedoch für geraume Zeit keine Grundlage mehr.