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Zukunft gestalten - wie können wir unseren Wohlstand in einer globalen Welt behalten?

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Vortrag von Meinhard Miegel anlässlich der Hauptausschussitzung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes am 17. Juni 2015 in Bonn

Die hier gestellte Frage ähnelt ein wenig der Frage des Staatsanwaltes an den Angeklagten: "Schlagen Sie immer noch Ihre Frau?" Was soll der Arme antworten? Sagt er ja, hat er sich um Kopf und Kragen geredet. Sagt er nein, räumt er mittelbar ein, sie geschlagen zu haben. Die einzig erlösende Antwort: "Ich habe niemals meine Frau geschlagen" ist ihm - streng genommen - verwehrt. So auch hier: Dass wir unseren Wohlstand in einer globalen Welt erhalten können, wird gewissermaßen unterstellt. Es geht nur noch um das Wie. Wie können wir unseren Wohlstand erhalten?

Sie, verehrte Sitzungsteilnehmer, können diese Frage offenbar nicht beantworten. Sonst hätten Sie mich nicht eingeladen. Und ich kann sie offenbar auch nicht beantworten. Sonst stünde ich nicht hier, sondern befände mich irgendwo, um mit Ehrungen überhäuft zu werden. Aber wir alle hier im Raum, Sie und ich, befinden uns in bester Gesellschaft. Denn vor wenigen Wochen, am 28. Mai 2015, stellten die G-7-Finanzminister und Notenbankchefs auf ihrem Finanzgipfel in Dresden "weltweit anerkannten Wirtschaftswissenschaftlern", unter ihnen ein Nobelpreisträger, eine ganz ähnliche Frage. Und die Antwort lautete den Presseberichten zufolge: "Es wurden sehr unterschiedliche Positionen vertreten". "Die haben", so ein Sitzungsteilnehmer, " ein sehr breites Meinungsspektrum gehabt". Überhaupt sei "die Diskussion eher akademisch als konkret" gewesen. Soll heißen: Die dort Versammelten vermochten der Politik wenig an die Hand zu geben, mit dem diese hätte etwas anfangen können. Und nun soll ich die Elite der "weltweit anerkannten Wirtschaftswissenschaftler" hier im Reger-Saal des Maritim-Hotels in Bonn ausstechen. Ich fürchte, das übersteigt meine Fähigkeiten bei weitem.

Fakt ist, dass immer nur Individuen und allenfalls verschworene Denkschulen vorgeben, die aufgeworfene Frage beantworten zu können. "Die Wissenschaft" vermag das nicht oder genauer: Es gibt keine Antwort, die sich auch nur in der Nähe eines wissenschaftlichen Konsenses ansiedeln ließe. Die Verlautbarungen der Wissenschaft bilden eine wilde Kakophonie, in der alle durcheinander reden und jeder jedem widerspricht. Oder platter: Die Wissenschaft hat auf die Frage, wie wir unseren Wohlstand erhalten können, ebenso wenig eine Antwort wie die Politik oder irgendeine andere gesellschaftliche Fakultät. Es herrscht kollektive Ratlosigkeit.

Verwunderlich ist das nicht, gibt es doch noch nicht einmal Konsens in der Frage, was Wohlstand ist oder zumindest sein sollte. Der Deutsche Bundestag hatte just zu dieser Frage zwischen 2011 und 2013 eine Enquete-Kommission tagen lassen, die sich mit großen Mühen gerade noch darauf verständigen konnte, was Wachstum sei. Auf einen Wohlstandsbegriff konnte sie sich nicht mehr einigen. Hier gingen die Auffassungen so weit auseinander, dass einige Mitglieder für den Rest der Sitzungsperiode nicht mehr miteinander sprachen. Wie aber soll etwas erhalten werden, von dem man nicht weiß, was es ist? Diese Frage ist keineswegs akademisch oder gar trivial. Wohlstand hat nämlich - wie nicht zuletzt dieser Streit in der Enquete-Kommission zeigt - höchst unterschiedliche Erscheinungsformen oder zumindest Facetten. Und abhängig von der Erscheinungsform, die in den Blick genommen wird, ist die Strategie, die für ihre Erhaltung erfolgversprechend ist.

Historisch gesehen ist es noch nicht lange her, da stand der Begriff Wohlstand ganz schlicht für "gesund sein" und "ein gutes Verhältnis zu Gott und den Menschen" haben. Wäre es bei diesem Begriffsverständnis geblieben, wären wir, insbesondere die Politikerinnen und Politiker, heute vieler Sorgen ledig. Dann ginge es vor allem um mögliche Gesundheitsrisiken wie Pandemien, Ebola oder multiresistente Viren, nicht aber vorzugsweise um Wachstumsraten, Beschäftigung und Schulden.

Die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen. Der Wohlstandsbegriff wurde Schritt für Schritt seines subjektiven Zufriedenheitsgehaltes beraubt und mit materiellen Gütermengen aufgefüllt. Über möglichst große Mengen solcher Güter verfügen zu können bedeutete zunehmend "wohl zu stehen". Wohlstand wurde in unserem Kulturkreis spätestens im Zuge der Industrialisierung zu einer abhängigen Variablen von wirtschaftlichem Wachstum. Nun hieß es nicht länger "was frag ich viel nach Gut und Geld, wenn ich zufrieden bin ...", sondern um zufrieden sein zu können, brauche ich viel Gut und Geld.

Das war und ist weithin der Dreiklang der Moderne: durch wirtschaftliches Wachstum zu größerem materiellen Wohlstand und durch größeren materiellen Wohlstand zu höherer subjektiver Zufriedenheit. Für uns Menschen des abendländischen Kulturkreises und der gegenwärtigen historischen Epoche ist dieser Dreiklang nicht nur harmonisch. Er ist geradezu zwingend. Für Viele geht es nur so: Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - das Motto der bereits angesprochenen Enquete-Kommission des Bundestages. Dass diese Kausalkette dramatische Folgereaktionen hatte und hat und uns heute danach fragen lässt, wie wir unseren Wohlstand einschließlich des vorausgegangenen Wachstums und der abgeleiteten Lebensqualität in einer globalen Welt erhalten können, ist deshalb  nur allzu verständlich.

Dies umso mehr, als dieses Ziel - je länger je mehr - schon seit geraumer Zeit verfehlt wird. Oder genauer: das einstige Vorhaben, durch Wachstum Wohlstand zu schaffen und durch diesen Lebensqualität einschließlich Lebenszufriedenheit, droht zu scheitern, wenn es nicht schon gescheitert ist. Jedenfalls wird die Suche der Politiker "nach Wegen hin zu einem höheren und dauerhaften Wachstum" - so die Aufgabenstellung des Finanzgipfels in Dresden - immer hektischer, um nicht zu sagen panischer. Denn mittlerweile befinden sie sich seit mehr als 40 Jahren auf eben dieser Suche, die - nebenbei bemerkt - hier in Bonn beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs 1978 begann, ohne jemals wirklich erfolgreich zu sein. Das so vehement geforderte und so leidenschaftlich begehrte Wachstum will und will sich nicht einstellen. Mal flackert es hier auf und dann dort. Aber großräumig wird es nie und über einen längeren Zeitraum betrachtet nimmt es in fast allen entwickelten Ländern tendenziell sogar ab, ohne dass eine Trendumkehr in Sicht ist. Schon macht das Wort von der säkularen Stagnation die Runde. Wie aber dann den auf dieses Wachstum gegründeten Wohlstand erhalten?

Vielleicht hilft ein Blick zurück bei der Beantwortung dieser Frage. Wie ist der Wohlstand, den wir jetzt in einer globalen Welt zu erhalten suchen, überhaupt entstanden und wie haben wir ihn bislang erhalten? Die Antwort hierauf ist ernüchternd, aber für unser künftiges Handeln höchst aufschlussreich. Denn der Wohlstand, den wir heute genießen und von dem wir nicht lassen wollen, gründet nicht nur auf zahllosen Ideen, genannt Innovationen, und harter Arbeit, sondern ebenso auf rigoroser Ausbeutung von Mensch, Natur und Umwelt und nicht zuletzt Taschenspielertricks und hingebungsvoll gepflegtem Illusionstheater. Dabei hat gerade letzteres in neuerer Zeit besondere Bedeutung erlangt. Wer weiß schon noch, was an unserem Wohlstand echt und was nur eingebildet ist, was solide fundiert und was nur Schaum und Träume sind?

Dies zu klären, ist nicht einfach. Generell lässt sich jedoch sagen, dass der Anteil virtuellen Wohlstands in neuerer Zeit stark zugenommen hat, während substanzieller,  realer Wohlstand in Ländern wie Deutschland, also den früh industrialisierten, seit langem stagniert, wenn nicht sogar rückläufig ist. Ein guter Indikator hierfür ist die Entwicklung der Geldmenge im Vergleich zur realen Gütermenge. Die Welt ist überflutet von Geld, oder genauer von Geldillusionen. Die reale Gütermenge wächst hingegen nur moderat und besonders moderat wächst sie in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern.

Aber müsste sich dies nicht in hohen Inflationsraten niederschlagen? Das tut es auch, nur haben wir inzwischen eine hohe Toleranz gegenüber der Entwertung des Geldes entwickelt. Wie anders wäre es möglich, dass sich in den zurückliegenden 50 Jahren bei den weltweit härtesten Währungen, dem japanischen Yen, der Deutschen Markt bzw. dem Euro und dem Schweizer Franken die Kaufkraft zwischen 75 und 80 Prozent, dem US-Dollar um 85 Prozent, dem britischen Pfund um 95 Prozent und der italienischen Lira bzw. dem Euro um 97 Prozent sinken konnte, ohne dass es zu Massenprotesten gekommen wäre.

In so geldfokussierten Gesellschaften wie der unseren, in denen Wohlstand ganz maßgeblich in Geldeinheiten zum Ausdruck gebracht wird, ist diese Messgröße also wenig aussagekräftig. Was heißt es schon für unseren Wohlstand, wenn sich Dax- und Immobilienindizes oder die Preise für Edelmetalle und Kunstwerke binnen weniger Jahrzehnte in schwindelerregende Höhen schrauben, um dann ebenso rasant wieder abzustürzen? Was bedeuten die alljährlichen Lohn- und Gehaltsrunden, die kaum die Kaufkraft, umso mehr aber die Preise erhöhen? Was für eine seltsame Märchenwunderwelt haben wir da geschaffen, in der ständig alles in Bewegung und nach oben zu streben scheint und wir am Ende des Tages ziemlich genau da stehen, wo wir an seinem Anfang standen?

Wenn wir nach der Erhaltung unseres Wohlstands in einer globalen Welt fragen, dann sollten wir zunächst einmal diesen Gaukel, diesen Talmiwohlstand, diese Wohlstandsillusionen beiseite wischen und prüfen, was uns wirklich wohlhabend, vor allem aber zufrieden macht. Die hart erkämpfte Lohnerhöhung, für die man sich nichts Zusätzliches kaufen kann, die allfällige Rentenanpassung, Zinsen, die noch nicht einmal den Geldwertschwund ausgleichen? Ich möchte nicht missverstanden werden: Dies ist kein Plädoyer gegen Lohn- und Rentenerhöhungen oder Zinszahlungen. Aber ich plädiere gegen die weitgehend sinnentleerten monetären Wohlstandsrituale, die nur allzu leicht den Blick auf das eigentlich Wesentliche, auf den harten Kern von Wohlstand verstellen. Und dass dies keine bloße Vermutung ist, zeigt das zähe Festhalten der Bevölkerung an möglichst großen Zahlen z.B. auf ihren Geldscheinen. Die Franzosen brauchten Jahre, um sich von ihren alten auf neue Francs umzustellen und die Italiener schafften es nie, ihre Tausendlirescheine in Einliramünzen umzutauschen. Auch wenn das im Ergebnis kindisch anmutet: Diese großen Zahlen signalisieren vielen Menschen Wohlstand, wie unwirklich auch immer.

Wozu diese Abschweifung? Weil auch wir uns selbstkritisch fragen sollten, was der harte Kern unseres Wohlstandes ist, der nicht nur zu erhalten lohnt, sondern mit Aussicht auf Erfolg auch erhalten werden kann? Das sind wohl schwerlich jene Wohlstandsillusionen, von denen eben die Rede war auch wenn diese vielen ans Herz gewachsen sind. Es ist aber auch nicht jener Wohlstand, der nur durch rigorose Ausbeutung von Mensch, Natur und Umwelt entsteht. Denn diese Art von Wohlstand zerstört nicht nur seine eigene Basis, sondern auf mittlere Sicht auch unsere Lebensgrundlagen. Über kurz oder lang führt er sich selbst ad absurdum.

Wie hoch der Anteil jenes auf Ausbeutung gegründeten Wohlstands ist, lässt sich auf Euro und Cent nicht beziffern, doch ist er mit Sicherheit beträchtlich. Das folgt bereits aus dem Umstand, dass Ausbeutung zum innersten Wesen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung gehört. In Bezug auf den Menschen wurde und wird dies seit langem intensivst debattiert. In Bezug auf Umwelt und Natur reicht die Debatte - jedenfalls in der gebotenen Breite - weniger weit zurück. Doch inzwischen hat auch sie Momentum erlangt. Immer mehr Menschen erkennen, dass unsere Art von Wohlstand den finalen Verbrauch endlicher Ressourcen zur Voraussetzung hat und deshalb spätestens dann nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, wenn diese Ressoucen erschöpft sind ohne dass zuvor für sie Ersatz geschaffen worden ist. Ich werde darauf zurückkommen.

Hier mag der Hinweis genügen, dass ohne den sich über Generationen erstreckenden Raubbau an natürlichen Ressourcen einschließlich der terrestischen Entsorgungskapazitäten niemals jenes Wohlstandsniveau erklommen worden wäre, auf dem wir uns jetzt befinden. Solange der wirtschaftende Mensch die natürlichen Ressourcen nur gebraucht und darüber hinaus im Wesentlichen auf seinen Einfallsreichtum und seiner Hände Arbeit angewiesen war, nahm der materielle Wohlstand nur äußerst langsam zu. Wirtschaftshistoriker schätzen, dass er sich in West- und  Mitteleuropa in den 1000 Jahren zwischen Karl dem Großen und Napoleon pro Kopf ungefähr verdoppelt hat. Das entspricht - auf äußerst niedrigem Niveau - einem durchschnittlichen Wachstum von 0,07 Prozent im Jahr.

Dieses Wachstum beschleunigte sich schlagartig mit der beginnenden Industrialisierung, die zahlreiche Facetten aufweist, vor allem aber den Paradigmenwechsel vom Gebrauch zum Verbrauch von Ressourcen. Als die Menschen anfingen, sich nicht mehr nur mit der Energie zu begnügen, die beispielsweise ein nachwachsender Baum bereitstellen konnte, sondern für alle Zeiten die Energie verbrauchten, die in Jahrmillionen in Kohle oder Öl gespeichert worden war, sprang die Kurve materieller Wohlstandsmehrung steil nach oben. Allein im 19. Jahr-hundert verdoppelte sich die pro Kopf erwirtschaftete Gütermenge und sie verdoppelte sich ein weiteres Mal in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts. Seit 1950 hat sie sich dann z.B. in Deutschland nochmals annähernd versechsfacht. Etwas auch nur annähernd Ähnliches hatte es in der vorangegangenen Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben.

Allerdings sind diese ungeheuren Schubkräfte, die die Mehrung unseres Wohlstands angeschoben haben, zugleich seine Achillesferse. Aufgrund der Überforderung von Ressourcen und Entsorgungskapazitäten sind sie nämlich nicht nachhaltig und damit auch nicht zukunftsfähig. Schlimmer noch: Sie wirken zerstörerisch, wie die lange Liste existenzbedrohender Entwicklungen zeigt: die Klimaerwärmung, die Wüstenbildung, die Süßwasserverknappung, der Artenschwund, die Übersäuerung der Ozeane und vieles andere mehr, was auszuführen sich in einem Kreis wie diesem erübrigen dürfte.

Wie bisher geht es nicht weiter: Das erklären nicht nur viele Staats- und Regierungs-chefs, sondern auch die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftsgemeinde - hier besteht ausnahmsweise weitgehender Konsens - und nicht zuletzt die deutliche Bevölkerungsmehrheit. Vieles soll anders werden, aber wie?

Dabei sind wir Deutschen, zusammen mit einigen anderen Völkern, noch mit einer zusätzlichen Hypothek befrachtet. Der letzte Geburtsjahrgang, der sich in der Zahl seiner Kinder ersetzt hat, wurde hierzulande nämlich bereits 1882 geboren, so dass schon vor rund einem Jahrhundert die Geburtenrate unter die Bestandserhaltungsrate gesunken ist - ein Trend, der sich Ende der 1960er Jahre noch einmal kräftig verstärkte. Seitdem treten an die Stelle von drei Erwachsenen nur noch zwei Kinder. Bezogen auf 1000 Einwohner hat Deutschland derzeit die geringste Zahl von Kindern - weltweit.

Dieser Umstand hat ganz wesentlich zu unserer im historischen und internationalen Vergleich weit überdurchschnittlichen Wohlstands-mehrung beigetragen. Kinder sind nun einmal über viele Jahre hinweg - ökonomisch betrachtet - Investitionen, die die Konsummöglichkeiten zunächst schmälern. Eltern und Großeltern wissen das und Kinderlose oder Ein-Kind-Eltern erklären nicht selten, sie hätten kein oder nur ein Kind, weil sie auf Konsum nicht verzichten wollten. Auf diese Weise unterblieben in den zurückliegenden fünfzig Jahren Investitionen in Multibillionenhöhe in Humankapital, Unterlassungen, die uns heute zu schaffen machen und uns in absehbarer Zeit möglicherweise in Krisen stürzen werden, die für unseren Wohlstand gefährdender sind als vieles andere.

Um es ganz deutlich zu sagen: Ich bin kein Pronatalist. Ich glaube nicht, dass bei einer Weltbevölkerung von derzeit 7,3 und in absehbarer Zeit vielleicht neun, zehn  oder vielleicht sogar elf Milliarden Menschen die Lösung irgendwelcher Probleme in noch mehr Menschen liegen könnte oder sollte. Die Welt leidet nicht unter Menschenmangel. Doch wenn Völker in ihrer demographischen Entwicklung von Expansion zu Kontraktion umschalten, müssen sie die Folgen hiervon antizipieren und sich frühestmöglich auf eine schrumpfende, alternde und mit hoher Wahrscheinlichkeit ethnisch und kulturell heterogenere Bevölkerung einstellen.

Wie sich die Lebens- und Wirtschaftsbedingungen solcher Bevölkerungen verändern, ist gründlich erforscht. Das öffentliche Interesse an diesen Erkenntnissen war und ist jedoch eher mäßig. Dass heute allen Ernstes über Fachkräftemangel lamentiert wird und wie in Kriegszeiten die letzten Arbeitskräftereserven mobilisiert werden sollen, ist bezeichnend und peinlich zugleich. Jeder, der dies wissen wollte, weiß seit mindestens 30 Jahren - erstens - dass diese Situation eintreten würde und - zweitens - wann sie eintreten würde, nämlich jetzt. Hätten die Deutschen es darauf angelegt, das demographische Fundament ihres Wohlstands zu schwächen, und möglicherweise sogar dauerhaft zu beschädigen, hätten sie sich genauso verhalten müssen, wie sie es jahrzehntelang getan haben. Lediglich zwei Drittel der Zahl der Kinder, die zur Bestandserhaltung erforderlich sind, ohne sich zugleich - und diese Konditionierung ist nach dem eben Gesagten wichtig! - vorausschauend und systematisch auf eine schrumpfende, alternde und ethnisch/kulturell heterogene Bevölkerung einzustellen - das muss Probleme bereiten und es bereitet Probleme!

Weder wurden die Städte und Wohnungen, die Verkehrssysteme, die Arbeitsplätze und Wirtschaftsstrukturen, noch wurden - und das ist mindestens ebenso bedeutsam -  die mentalen Voraussetzungen für die  Bewältigung der absehbaren demographiebedingten Herausforderungen geschaffen. Statt dessen wurde ausgiebig konsumiert und ein Sozialstaat errichtet, der ständig größere Mittel beansprucht und auf Dauer nicht finanzierbar ist. Doch wie hätte es anders sein können, wenn ein Volk nach der Devise lebt "For ever young" und "Wir sind the Master of the Universe". Wie vielen unserer Mitbürger ist denn bewusst, dass die Europäer noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Viertel der Weltbevölkerung stellten und die Deutschen fast vier Prozent? Heute stellen die Europäer noch zehn und die Deutschen reichlich ein Prozent. Und bis zum Ende dieses Jahrhunderts dürfte der Anteil der Europäer auf schätzungsweise vier Prozent zurückgegangen sein, wobei ein Viertel eine dunkle Hautfarbe oder Mandelaugen haben dürfte. Und der Anteil der Deutschen wird im Promillebereich liegen.

Nun sind Bevölkerungszahlen für die Wohlstandswahrung nicht alles, obgleich sie auch nicht so belanglos sind, wie manche vorgeben. Menschen sind wichtig. Noch wichtiger ist jedoch ihr Wissen und Können. Welcher Schweizer möchte schon mit einem Inder tauschen? Wie also ist es um das Wissen und Können der Europäer, der Deutschen, bestellt? Dass es seit Beginn der industriellen Revolution vor 250 Jahren ungeheure Wissens- und Könnensschübe gegeben hat, steht außer Frage, auch wenn die Meinung der Gelehrten, ob die großen Veränderungen hinter oder vor uns liegen, keineswegs einhellig ist. So fanden für den französischen Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel die uns bis heute prägenden Zäsuren schon vor mehr als 100 Jahren statt, während ein Dennis Meadows, Mitverfasser der "Grenzen des Wachstums" meint, in den kommenden 20 Jahren werde sich mehr verändern als in den zurückliegenden hundert Jahren.

Doch wie dem auch sei. Der Zuwachs von Wissen und Können hat seit Beginn der Industrialisierung nie ausgereicht, um ohne gravierende Schäden für uns, unsere Nachkommen und unsere Mitwelt so leben zu können, wie wir gelebt haben und vorerst offenbar (mehrheitlich) weiter zu leben gedenken. Ich habe es bereits angedeutet: Unser heutiger Wohlstand gründet ganz wesentlich auf rigoroser Ausbeutung und Raubbau. Wenn wir also unseren Wohlstand (was immer darunter verstanden werden soll) erhalten wollen, müssen zunächst diese auf Raubbau gründenden Teile zurückgeführt werden. Konkret: Kein finaler Verbrauch endlicher Ressourcen ohne Entwicklung verlässlicher Substitute, keine Überforderung der Entsorgungskapazitäten der Erde, keine Ausbeutung von Arbeitskräften, vor allem in den sich entwickelnden Ländern. Bislang sind wir hiervon weit entfernt. Eine einzige Kennziffer mag zur Illustration genügen: Wirtschaftete die Weltbevölkerung wie wir Deutschen, brauchte sie 2,6 Globen - ganz offensichtlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Bis heute haben wir in den früh industrialisierten Ländern noch keinen Weg gefunden, der uns aus diesem Dilemma geführt hätte oder dereinst führen könnte. Der Weckruf der Bundeskanzlerin, es müsse uns in diesem Jahrzehnt gelingen, eine Art des Wirtschaftens zu finden, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolgs, sprich: unsere Lebensgrundlagen, zerstört, blieb zwar manchem im Ohr, aber folgenlos. Nur Illusionisten und Träumer können darauf hoffen, dass die deutsche oder die europäische oder die globale Wirtschaft in diesem oder im nächsten oder im übernächsten Jahrzehnt in die Tragfähigkeitsgrenzen der Erde zurückkehrt. Das aber muss geschehen, wenn unser Wohlstand in einer globalen Welt erhalten bleiben soll.

Wie kann das geschehen? Um die Lücke zwischen unseren Fähigkeiten auf der einen und unseren Ansprüchen auf der anderen Seite zu verkleinern - ich bin nicht so vermessen, von einer Schließung zu sprechen - müsste - ich benutze bewusst den Konjunktiv - eine Wissens- und Könnens- sowie eine Befähigungsrevolution stattfinden, die alles Bisherige in den Schatten stellt. Gewiss gibt es hier und da schon einiges durchaus Vorzeigbare und wenn man den Naturwissenschaften traut, stehen in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren eindrucksvolle Durchbrüche an. Nur gilt es bis dahin noch hohe Hürden zu überwinden. Was auf dem Reißbrett taugt, taugt noch lange nicht im Alltag, abgesehen davon, dass die Strecke zwischen Reißbrett und Alltag mit Milliardensummen zu pflastern ist, Mittel, die erst noch aufgebracht werden müssen. Für uns noch folgenreicher ist jedoch, dass - anders als in der Vergangenheit - Innovationen jedweder Art nicht mehr vorzugsweise unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern, sondern ganz generell den globalen Wettbewerb auf eine höhere Ebene heben. Und hier kommt dann eben doch wieder die Größe einer Volkswirtschaft, sei es die deutsche oder europäische zum Tragen.

Ich sprach von einer Wissens- und Könnens- sowie einer Befähigungs- ich könnte auch sagen "Anpassungsrevolution" - und ich sprach im Konjunktiv: Sie müsste stattfinden. Ich sagte: "müsste", denn ich bin mir keineswegs sicher, ob die Bevölkerung eine solche Revolution mitträgt, mitzutragen in der Lage ist. Machen wir uns nichts vor: ein Kindergeburtstag ist das nicht. Die gesellschaftlichen Folgen bis hin zu tiefgreifenden Verwerfungen wären enorm. Die Beschäftigungs-, die Verteilungs-, die Bildungs-  oder die Sozialstaatsfrage - sie alle würden sich neu und schärfer denn je stellen. Und schließlich: Stimmt es überhaupt, dass die Menschen oder zumindest die große Mehrzahl ad libitum gebildet und weiterentwickelt werden können? Wollen sie das überhaupt? Oder werden sie nicht eher früher als später danach streben, sich dieser ganzen Wissens- und Könnensplackerei zu entziehen und Wohlstandsformen zu suchen, die ohne diese Mühsal auskommen?

Dies scheint mir eine empfindliche Schwäche der ganzen Wohlstandsdebatte zu sein. Gefragt wird immer nur, wie wir unseren Wohlstand erhalten können. Gefragt werden müsste aber auch, ob wir ihn überhaupt erhalten wollen. Gewiss wird sich die überwältigende Mehrheit darin einig sein, möglichst keine Wohlstandseinbußen zu erleiden. Doch wenn sie mit dem Aufwand für diesen Wohlstandserhalt konfrontiert werden, zucken immer mehr zurück. Soviel ist ihnen dieser Wohlstand dann doch nicht wert. Der bedingungslose Wohlstandsenthusiasmus, der bis in die 1990er Jahre hinein weit verbreitet war, schwindet. In Ländern wie Deutschland erklären viele, eigentlich hätten sie genug und nicht wenige, etwas weniger täte es auch.

Ganz allmählich scheint sich eine gewisse Wohlstandsmüdigkeit auszubreiten. Sie wird befördert durch die immer länger werdenden Schatten, die von der bisherigen Wohlstandsmehrung geworfen werden, und die enttäuschten Erwartungen vieler, durch größeren materiellen Wohlstand zu noch mehr Lebenszufriedenheit zu gelangen. Die Menschen in Deutschland wie in zahlreichen anderen früh industrialisierten Ländern sind mit ihrem Leben alles in allem zufrieden. Doch seit geraumer Zeit werden sie nicht immer zufriedener. Nicht nur wirtschaftliches Wachstum und materielle Wohlstandsmehrung scheinen sich entkoppelt zu haben, sondern auch materieller Wohlstand und Lebenszufriedenheit.

Was heißt das nun alles für die eingangs gestellte Frage nach dem Erhalt unseres Wohlstands in einer globalen und damit weithin transparenten Welt? Zunächst und vordringlich heißt das, dass für uns die Zeit gekommen ist, uns ehrlich zu machen. Der Wohlstand, wie wir ihn heute genießen, eben "unser Wohlstand", ist eine Wohlstandsform des 19. und allenfalls des 20. Jahrhunderts, die tief verwurzelt ist in rigoroser Ausbeutung von Umwelt, Natur und nicht zuletzt auch Menschen und die geprägt ist von großer Ungleichheit bei der Verteilung irdischer Güter - binnengesellschaftlich und weit mehr noch global. Ob dieser Wohlstand von alternden und schwächelnden Bevölkerungen, die von Selbstzweifeln zunehmend geplagt sind, erhalten werden kann und soll, erscheint mir zweifelhaft. Anderen scheint es genauso zu gehen, was die Vielstimmigkeit bei der Beantwortung dieser Frage erklären dürfte.

Was wir erstreben sollten und müssten, ist ein Wohlstand, der den Bedingungen Deutschlands, Europas und der Welt im 21. Jahrhundert gemäß ist. Das ist ein deutlich anderer Wohlstand als der tradierte. Er ist weniger materiell, da die Nutzung der Ver- und Entsorgungskapazitäten von mehr als einer Erde dauerhaft nicht möglich ist. Und er ist - wenn er uns nicht in endlose gewalttätige Konflikte stürzen soll - gleicher verteilt als derzeit. Wenn ein Prozent der Weltbevölkerung über sechzig Prozent der Weltgütermenge verfügt, und das wohlhabendste Fünftel - einschließlich jenes einen Prozents - das Siebzigfache dessen hat, was dem wirtschaftlich schwächsten Fünftel zukommt, dann ist das gewiss kein stabiler Zustand.

Stellen wir uns deshalb darauf ein, dass "wir unseren Wohlstand in einer globalen Welt" - nicht werden erhalten können, womit sich die Frage nach dem "Wie" erübrigt. Damit ist nicht gesagt, dass wir allmählich verarmen müssten. Aber von unserem derzeitigen menschheits-geschichtlich beispiellosen materiellen Wohlstandsniveau - ein Hartz IV-Empfänger hat heute eine höhere Kaufkraft als ein durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt vor fünfzig Jahren - bis hin zu materieller Bedrängtheit ist ein weiter Weg.

Abgesehen davon ist - wie die Geschichte zeigt - Wohlstand vielschichtig und facettenreich. An die Stelle von materiellen können und werden vermehrt immaterielle Wohlstandselemente treten. Anzeichen für diese Entwicklung gibt es schon jetzt allenthalben. Gerade jüngere Menschen streben nicht mehr in erster Linie nach Einkommen und materiellen Gütern - das auch! - aber sie streben vermehrt eben auch nach Sinnvollerem, Lebenswerterem. Sollte sich diese Entwicklung verfestigen, werden wir zwar "unseren Wohlstand" nicht erhalten können, aber vielleicht einen lohnenderen Wohlstand schaffen, der zu einer schrumpfenden, alternden, ethnisch und kulturell heterogenen Gesellschaft unter den Bedingungen der Welt des 21. Jahrhunderts besser passt als der derzeitige.

 

 

 

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Vortrag "Zukunft gestalten"