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Zwischen Freiheit und Verantwortung - Stiftungen als Impulsgeber und Wertespeicher

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Foto: David Ausserhofer vergrößern

Vortrag von Meinhard Miegel anlässlich des Stiftungstags am 21. April in Berlin

In einem Bericht über das Wirken von Stiftungen fand ich den Hinweis, dass diese besonders attraktiv seien "wenn Ordnungen zusammenbrechen oder sich verändern". Ich habe nicht nachgeprüft, ob und wie empirisch belastbar diese Aussage ist. Aber plausibel erscheint sie mir durchaus. Denn Stiftungen sind gemeinhin auf Dauer angelegt und bilden deshalb so etwas wie Stabilitätsanker in turbulenten Zeiten. Sie gehören - eine weitere Lesefrucht - "zu den großen Kontinuitäten in einem von Diskontinuitäten geprägten Land".

Sollte dem so sein - und bis zum Beweis des Gegenteils spricht nichts dagegen - müsste dies eine ideale Zeit für Stiftungen sein. In der Tat hat sich in Deutschland die Zahl jährlicher Neugründungen im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren verzehnfacht, ist die Gesamtzahl rechtsfähiger Stiftungen auf mehr als 20.000 gestiegen und wird die Zahl nicht-rechtsfähiger Stiftungen auf bis zu 80.000 geschätzt. Das alles sind beeindruckende Zahlen, die beruhigen und zugleich beunruhigen. Sie beruhigen, da sie Ausdruck eines lebendigen, konstruktiven Bürgerssinns sind. 96% aller Stiftungen verfolgen gemeinnützige Zwecke. Und sie beunruhigen, da möglicherweise immer mehr Menschen spüren, dass tradierte "Ordnungen zusammenbrechen oder sicher verändern."

Ganz grundlos wäre ein solches Empfinden nicht. Zwar wähnt sich insbesondere der moderne Mensch gerne in Zeiten tiefgreifender Umbrüche. Aber hin und wieder befindet er sich wirklich in solchen, und es ist wohl nicht zu kühn festzustellen: Es ist wieder einmal soweit! Ein lange Zeit gültiges Paradigma hat sich erschöpft, und Neues schickt sich an, es zu verdrängen. Wie bisher, erklären 80% der Bevölkerung dieses Landes, geht es nicht weiter. Die Wissenschaft teilt diese Einschätzung. In den kommenden 20 Jahren, so meinen nicht nur einzelne ihrer Vertreter, werde sich mehr verändern als in den zurückliegenden 100 Jahren.

Diese Veränderungen werden sich in vielen Bereichen ereignen und deshalb recht unterschiedlich sein. Dennoch dürften sie durch ein gemeinsames Band zusammengehalten werden. Das gemeinsame Band des jetzt zur Neige gehenden Paradigmas war materielle Expansion. Sie war und ist weithin noch immer die Antwort nicht nur auf wirtschaftliche, sondern auch auf gesellschaftliche und sogar kulturell-zivilisatorische Herausforderungen. Und selbst die Frage nach dem Lebenssinn, auf die jede Gesellschaft, die Bestand haben will, in der einen oder anderen Form eingehen muss, fand seit Anbruch der Moderne vorrangig diese Antwort: Strebe nach mehr materiellen Gütern: ein höheres Einkommen, eine größere Wohnung, ein komfortableres Auto, einen längeren Urlaub und ordne alles andere diesem Streben unter: deine zwischenmenschlichen Beziehungen, die Frage nach Kindern, deine und deren Ausbildung und vieles andere mehr. Worin sahen Berliner Eltern bei einer vor einiger Zeit durchgeführten Befragung den Sinn schulischer Ausbildung? Sie soll - so meinten sie - dazu dienen, dass Kinder und Heranwachsende in möglichst kurzer Zeit eine Tätigkeit ausüben können, bei der sie möglichst viel Geld verdienen. Oder wie sagen die Amerikaner in gewohnter Kürze: We were  born to shop.

Das Missliche an dieser Weltsicht ist: Sie hat sich überholt oder genauer: Sie ist überholt worden durch zwei  Entwicklungen, die, je länger je mehr, immer kraftvoller in den Vordergrund drängen. Die eine ist schleichender Überdruss. Ein Paradigma mag sein wie es will: religiös, militärisch, die Wissenschaften und Künste. Irgendwann fragen die Menschen: Soll das alles gewesen sein, das nimmermüde Streben nach jenseitiger Glückseligkeit, das triumphale Klirren von Waffen…. gibt es denn nicht noch anderes? Und so fragen sie auch jetzt wieder - nicht alle, aber ein zumindest in den früh industrialisierten Ländern nicht länger zu übersehender Kreis - was soll die unaufhörliche Jagd nach immer noch mehr, mehr materiellen Gütern. Was brauche ich wirklich? Wofür will ich meine Zeit und damit mein Leben einsetzen? Gibt es vielleicht etwas, das ein wenig über mich selbst hinausweist?

Diese Entwicklung ist da, und sie gewinnt an Kraft. Kraftvoller noch als sie ist jedoch eine zweite: die ernüchternde Einsicht, dass die Menschheit bei ihrem derzeitigen und heute absehbaren Wissens- und Könnensstand unmöglich so weiter produzieren und konsumieren kann, wie sie dies in den früh industrialisierten Ländern und Teilen der übrigen Welt seit langem tut. Der einfache Grund: Die Erde gibt es nicht länger her, ihre Tragfähigkeitsgrenzen sind weit überschritten, was die Bundeskanzlerin vor einigen Jahren ausrufen ließ: Es muss uns in dieser Dekade gelingen, eine Art des Wirtschaftens zu finden, die nicht die Grundlage ihres eigenen Erfolgs - ich füge hinzu: die Lebensgrundlagen von Pflanzen, Tieren und Menschen - zerstört. Ich meine, ein dramatischerer Abgesang auf ein geltendes Paradigma ist kaum denkbar. Aber war, ist er auch wirksam?

Von jener Dekade, von der die Bundeskanzlerin sprach, ist die Hälfte um, und die Menschheit, mit den früh industrialisierten Ländern an der Spitze, zerstört weiter "die Grundlagen ihres eigenen Erfolges", ihre Lebensgrundlagen. Vielleicht tut sie dies mit einem schlechteren Gewissen als früher und vielleicht tut sie dies auch ein wenig verhaltener. Doch von einer Ab- oder gar Umkehr kann auch bei wohlwollendster Betrachtung keine Rede sein. Gewiss werden mittlerweile pro Produkteinheit weniger Ressourcen beansprucht und die Umwelt weniger belastet. Was hier jedoch positiv zu Buche schlägt, wird sogleich  wieder durch größere Produktion und größeren Konsum - regional wie global - zunichte gemacht.

Die Folge: Seit den 1970er Jahren ist der Verbrauch an nichterneuerbaren Ressourcen pro Kopf um 35 und insgesamt um 150 Prozent gestiegen und für die Bereitstellung von erneuerbaren Ressourcen namentlich aber die Entsorgung der Menschheit von den Schlacken ihrer Produktion und ihres Konsums werden gegenwärtig 1,5 Globen, 2030 zwei und um 2050 voraussichtlich 2,6 Globen benötigt, was nichts anderes bedeutet als rigoroser Raubbau. Die Zahlen sprechen eine beredte Sprache: Innerhalb weniger Jahrzehnte hat der homo rapax die Tierpopulationen halbiert, die Artenvielfalt um ein Drittel dezimiert und den Eisschild der Arktis um eine Fläche schwinden lassen, die zehn Mal so groß ist wie Deutschland, weltweit die Gletscher zum Schmelzen gebracht, die Wüstenbildung vorangetrieben, die Trinkwasservorräte vielerorts drastisch reduziert, und, und…..

Das ist das große Paradox unserer Zeit:  Noch nie gab es so viele langlebige, gesunde, gut beschulte und materiell wohlhabende Menschen, die einen leichten Zugang zu kulturellen und medizinischen Einrichtungen haben wie heute. Und noch nie lebten Menschen in einer ähnlich überforderten Welt, in der sich kein einziges entwickeltes Land innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde befindet. Wir Deutschen beispielsweise benötigen 2,6 Globen für unseren Lebensstil, die US Amerikaner gar 4,2. Und wann gilt ein Land als entwickelt? Wenn die durchschnittliche Lebenserwartung bei mindestens 70 Jahren liegt, Kinder mindestens 7 Jahre lang zur Schule gehen und die pro Kopf erwirtschaftete Gütermenge mindestens rund 10.000 US $ jährlich beträgt.

Wer wollte da ernstlich bezweifeln, dass wir in Ländern und Zeiten leben, in denen Diskontinuitäten und selbst der Zusammenbruch zumindest aber tiefgreifende Veränderungen programmiert sind. Und niemand sollte irgendwelche Illusionen im Blick auf die Größe der Herausforderung hegen. Sie sind gewaltig. Das aber ist noch nicht einmal das Forderndste. Viel fordernder ist, dass sie sich mit der etablierten und erprobten Vorgehensweise - wenn überhaupt - nur unzulänglich meistern lassen. Das nämlich unterscheidet einen Paradigmenwechsel von einer Neuorientierung oder auch einer Krise. Für letztere gibt es in der Regel historische oder internationale Vorbilder. Paradigmenwechsel hingegen sind Unikate, ohne Vorgänger und ohne Nachfolger. Bei Paradigmenwechseln verlieren viele wohlbegründete  Erfahrungen ihren Wert, viele erprobten Vorgehensweisen ihre Wirksamkeit. Bei Paradigmenwechseln muss anders gedacht, anders gehandelt und nicht zuletzt auch anders empfunden werden. Dies sind Phasen des Experimentierens und Laborierens, des Betreten geistigen Neulands und des Erprobens von gänzlich Unbekanntem.

Was wissen wir schon vom Leben auf der Erde - ich meine, was wissen wir wirklich! - wenn die Durchschnittstemperatur um zwei oder mehr Grad gestiegen sein wird, von der Entwicklung der Ernteerträge, der Trinkwasserversorgung, den Migrantenströmen, den Wasserkriegen? Was wissen wir über die Verlässlichkeit unserer Rohstoffbasis oder die Standfestigkeit unseres Bevölkerungsbaums? Was hierzu zu hören ist, ist gelinde formuliert, nicht selten naiv. Und was wissen wir schließlich von der Funktionsfähigkeit unserer gesellschaftlichen Systeme, die ausnahmslos unter Bedingungen permanenter materieller Expansion - genannt Wachstum - entstanden sind, ausgebaut wurden und nach und nach alle Lebensbereiche durchdrungen und geformt - manche sagen: verformt  - haben? Wie funktionieren bei einer Rückkehr zu den Tragfähigkeitsgrenzen der Erde - und die ist, wollen wir keinen Selbstmord begehen, im striktesten Wortsinn alternativlos - die Güter- und Finanzmärkte, die Arbeitsmärkte und sozialen Sicherungssysteme, die staatlich organisierten und nicht- organisierten Sozialverbände? Ja selbst die Frage nach der Funktionsfähigkeit der Familie ist zu stellen. Das von mir geleitete Denkwerk Zukunft - Stiftung kultureller Erneuerungen, das Fragen wie diesen nachgeht, gerät immer wieder in eine Art Vakuum. Dann heißt es: "So haben wir das noch nie gesehen", "Darüber haben wir noch nicht nachgedacht", "Das ist nicht unser Arbeitsauftrag". Und weil das so ist, wird zäh an Überkommenem festgehalten, auch wenn offensichtlich ist, dass dieses keine Fundierung mehr hat.

Nun ist es nicht so, dass derartige Umbrüche, dieser Verlust langgehegter Gewissheiten und die Umwertung von Werten etwas völlig Neues in der Menschheitsgeschichte wären. Die neolithische und industrielle Revolution, aber auch der Zusammenbruch der antiken und der mittelalterlichen Ordnungen waren vermutlich von ähnlicher Tragweite wie der jetzt anstehende Paradigmenwechsel. Nur unterscheidet sich der jetzt anstehende von den vorangegangenen - neben vielem anderen - auch dadurch, dass er sich unter einem historisch beispiellosen Zeitdruck vollzieht.

Frühere Umbrüche dieser Art erstreckten sich über Jahrhunderte oder zumindest einige Generationen. Dieser läuft binnen einiger Jahre oder allenfalls binnen weniger Jahrzehnte ab. Das heißt, nicht zuletzt im Blick auf die mittlerweile erreichte Langlebigkeit der Menschen, dass er sich nicht im Rahmen der natürlichen Generationenabfolge bewältigen lässt. Soll heißen: Die im alten Paradigma verwurzelte Generation scheidet dahin und die nachfolgende wächst in das neue Paradigma hinein. Diesmal müssen ein und dieselben Menschen, Angehörige ein und derselben Generation, Menschen, die vorangegangene Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster verinnerlicht haben, sich - bildlich gesprochen - häuten und als veränderte Menschen wieder auferstehen.

Mangels jeglicher Erfahrung wissen wir - wiederum neben vielem anderen - auch das nicht: Können das Menschen überhaupt? Können sie aus Zeiten materieller Opulenz und ständiger Expansion kommend, erfolgreich und ohne existenzielle Verwerfungen eintreten in eine Phase größerer Suffizienz und fortschreitender Dematerialisierung? Wie gesagt: Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass es ihnen ganz offensichtlich ausserordentlich schwer fällt und viele sich lieber zugrunde richten und sich und ihren Nachfahren eher eine zerstörte Erde bereiten als von gewohnten Lebensweisen abzulassen. Wie das dann im Bild aussieht, ist in diesen Tagen in The Guardian zu besichtigen: die totale Überforderung von Mensch und Erde.

Und wir wissen ein zweites: Nicht zuletzt, weil es Menschen so außerordentlich schwerfällt, Paradigmenwechsel mit zu vollziehen, kann es für sie keine Blaupausen geben, eine Feststellung, die von allen bisherigen Paradigmenwechseln bestätigt wird. Wer sollte auch eine solche Blaupause zeichnen und wie könnte sie aussehen? Was in historischen Phasen wie diesen erforderlich ist, sind daher nicht Blaupausen sondern ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen, Phantasie, Improvisationsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft. Das Terrain, in dem sich Paradigmenwechsel vollziehen, ist nämlich unübersichtlich und jeder Tag bringt Unvorhergesehenes. Deshalb lassen sie sich nicht durch raumgreifende Konzepte, sondern nur durch sensible Aktionen und Reaktionen von Millionen von Akteuren meistern. Diese müssen einander ermuntern und ermutigen und gegebenenfalls anleiten und unterstützen. Paradigmenwechsel sind Zeiten dichter Nebel, in denen es am erfolgversprechendsten ist, sich voran zu tasten.

Für mich ist das Erstarken der Zivilgesellschaft, das seit geraumer Zeit allenthalben zu beobachten ist, ein Anzeichen dafür, dass eine wachsende Zahl von Menschen dies begriffen hat oder zumindest ahnt. Sie verlassen sich nicht mehr auf die Einsichtsfähigkeit, Klugheit und Tatkraft des Staates und seine konzeptionellen Fähigkeiten. Vielmehr stellen sie staatlichem Handeln etwas zur Seite, das nicht ihm entspringt, sondern dem Zusammenwirken und Handeln einzelner oder gesellschaftlicher Gruppen.

Die Zivilgesellschaft ist das begriffliche Dach, unter dem sich unterschiedlichste Institutionen, Vereine, Verbände, soziale Bewegungen, NGOs, Non-Profit-Organisationen und nicht zuletzt Stiftungen zusammengefunden haben, um zum einen auf Staat und Markt  Einfluss zu nehmen, also auf etwas unkonventionellere Weise als früher "mitzubestimmen" und zum anderen - und darin dürfte die eigentliche Bedeutung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten liegen - zur Lösung von Problemen beizutragen, die von Staat, Markt und Familie nicht hinreichend gelöst werden können.

In diesem Kraftfeld von Staat, Markt und Familie und nunmehr eben auch Zivilgesellschaft spielt letztere einen immer bedeutsameren Part. Mehr noch: Ohne die Mitwirkung der vielen, die sich unter ihrem Dach zusammengefunden haben, dürften sich die großen Fragen von Gegenwart und Zukunft nicht beantworten lassen. Die Akteure der Zivilgesellschaft sind nicht länger nur eine wünschenswerte Ergänzung staatlichen und gesellschaftlichen Handelns. Sie sind essenzieller und damit unverzichtbarer Bestandteil.

Umso drängender ist die Frage, aus welchen Ideenquellen sich ihre Aktivitäten speisen. Ganz einfach ist diese Frage nicht zu beantworten, was lange Zeit Anlass war, die Legitimation gesellschaftlichen Handelns in Zweifel zu ziehen. Insbesondere staatliche Instanzen, aber auch Bereiche der Wirtschaft, fühlten sich lange Zeit und fühlen sich mitunter auch heute noch durch zivilgesellschaftliches Handeln eher gestört als beflügelt. Dafür werden diejenigen, die sich den tradierten Denk- und Handlungsmustern verpflichtet fühlen, vermutlich Verständnis haben. Denn das Agieren der Zivilgesellschaft ist weniger planbar, ungeordneter, erratischer und mitunter auch impulsiver, ja beinahe unzivilisierter als dies in den etablierten Handlungsmustern von Staat und Wirtschaft angelegt ist.

Die Zivilgesellschaft lebt nicht in Gänze, aber doch zu einem Gutteil von der Kreativität und den Ideen einzelner und kleiner Gruppen, was nicht nur zu wünschenswerter Vielfalt beiträgt, sondern gelegentlich auch zu  misstönender Kakophonie. Doch die muss eine entwickelte Gesellschaft ertragen, vor allem wenn sie sich, wie gerade jetzt wieder, in der Transformation von einem Paradigma zum nächsten befindet.

Und damit wären wir bei der Rolle der Stiftungen im bunten und nicht selten chaotischen Agieren der Zivilgesellschaft. Dass Stiftungen dieser zugehörig sind, war nicht immer so klar wie heute. Dazu war ihre rechtliche und mittelbar staatliche Verwobenheit zu offensichtlich - die Stiftung als verlängerter Arm des Staates, gewissermaßen als Ausputzer, der immer dann in Erscheinung tritt, wenn der Staat nicht mehr kann oder will. Völlig überwunden ist diese Einschätzung noch nicht, aber sie wurde doch entscheidend zurückgedrängt von der Einsicht, dass Stiftungen in ihrer ganzen Breite und Fülle - im Rahmen der Zivilgesellschaft - eine ganz eigene Aufgabe zu erfüllen haben.

Das beginnt mit ihrer Gründung oder richtiger, es beginnt bereits Jahre und Monate zuvor. Stiftungen sind in aller Regel Wunschkinder, die mit vielen Gedanken, Überlegungen und oft auch Liebe ins Leben gerufen und dann begleitet werden. Jene 20.000 rechtsfähigen und bis zu 80.000 nicht rechtsfähigen Stiftungen sind die Frucht von Millionen von Ideen und hundertausenden von Entwürfen und Planungen, in denen sich eine unübersehbare Fülle von Lebenserfahrungen, Hoffnungen, Enttäuschungen sowie Welt- und Lebenssichten niederschlägt. Wenn die Zivilgesellschaft zu einem Gutteil von der Kreativität und den Ideen einzelner und kleiner Gruppe lebt, so gilt dies in noch ausgeprägterer Weise für den großen Kosmos der Stiftungen. Auch wenn nicht alles, was in diesem Kosmos an kreativem Potenzial angelegt ist, zur Entfaltung kommt und Früchte trägt, so ist es doch angelegt und als Potenzial vorhanden. Gesellschaften brauchen einen solchen Wurzelgrund, wenn sie langfristig, vor allem aber, wenn sie in Phasen von fundamentalen Umbrüchen gedeihen sollen.

Ich sagte soeben, dass solche Umbruchphasen, Phasen verstärkten Experimentierens und Laborierens seien, und kein Bereich eignet sich hierfür besser als derjenige der Stiftungen. Das heißt nicht, dass nicht auch hier lange und gerade Furchen gezogen werden sollten. Das gebietet bereits ihr "Ewigkeitscharakter". Eintagsfliegen sind Stiftungen zumeist nicht und sie sollten es auch nicht sein. Zugleich sollten Stiftungen aber immer auch genug Luft zum Atmen haben und Luft zum Atmen geben. Sie dürfen nicht nur, sie sollen auch unkonventionellen Ideen und unorthodoxen Denkansätzen Raum geben. Besser als in jedem anderen Bereich kann eine Gesellschaft im Stiftungskosmos ihre Ideen auf den Prüfstand stellen und sich selbst ausprobieren.

Es sei wiederholt: Ob wir dies nun erstrebenswert finden oder nicht: Wir befinden uns in einer historischen Phase, in der mit tradierten Gewissheiten aufgeräumt wird, und wir selbst auf elementarste Fragen (noch) keine Antwort haben. Wohl der Gesellschaft, die in einer solchen Lage sich auf ein breites bürgerschaftliches Engagement und eine Vielzahl von lebendigen und gegebenenfalls eigenwilligen Stiftungen stützen kann. Durch Stiftungen können Bürger ihre Gedanken und ihr Wollen am vernehmlichsten kundtun, selbst wenn sie gar nicht mehr unter den Lebenden weilen. Zugleich heißt das aber auch, dass die Farbigkeit und der Facettenreichtum von Stiftungen geradezu kultiviert werden müssen. Da uns so vieles, was uns schon heute beschwert und morgen auf das äußerste belasten wird, ratlos lässt, darf wirklich keine Erkenntnisquelle ungenutzt bleiben oder gar verstopft werden. Denn Stiftungen sind in der Tat Impulsgeber und Wertespeicher. Alle, die da stiften, können sich hier zwischen Freiheit und Verantwortung bewähren.

Quelle: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft