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Stephan Lessenich

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Stephan Lessenich (geboren 1965) ist seit 2010 Dekan der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Professor für Soziologie. Von 1983 bis 1989 studierte er Politikwissenschaften, Soziologie sowie Geschichte in Marburg. 1993 promovierte er im DFG-Graduiertenkolleg "Lebenslauf und Sozialpolitik" der Universität Bremen. 2002 habilitierte er sich im Fach Soziologie und erhielt 2004 seinen ersten Ruf als Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an die Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2011 leitet er dort gemeinsam mit Hartmut Rosa und Klaus Dörre die DFG-Kollegforschergruppe „Postwachstumsgesellschaften". Seine Forschung konzentriert sich neben institutionellem Wandel und gesellschaftlicher Transformation auf die Theorie des Wohlfahrtsstaates, Vergleichende Makrosoziologie moderner Gesellschaften, Sozialen Wandel sowie soziologische Zeitdiagnose und die Soziologie des Alter(n)s.

Kurzstatement

Die funktionale und normative Stabilisierung des ökonomischen Wachstumsmodells der spätindustriellen Gesellschaften beruhte und beruht wesentlich auch auf einem Wachstumssozialstaat. Im Nachkriegskompromiss zwischen Kapital und Arbeit wurde die Akzeptanz des Privateigentums gegen den Aufbau von Sozialvermögen getauscht - auf der Grundlage einer institutionalisierten Umverteilung von Teilen des beständig neu generierten gesellschaftlichen Mehrprodukts. In einer Gesellschaft, die funktional wie normativ an den Grenzen ihres überkommenen Wachstumsregimes angelangt ist, wird auch die Frage der Umverteilung neu gestellt und in veränderter Weise beantwortet werden müssen. Angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich auf dem Weg zum Postwachstum eine neoliberale Verzichtsideologie durchsetzt bzw. fortschreibt, die die Verteilungsrelationen und Ungleichheitsstrukturen der Wachstumsgesellschaft unberührt lässt oder vermutlich sogar weiter verschärft. Der gesellschaftliche Übergang zu einer produktiven - statt destruktiven - Postwachstumskonstellation steht und fällt aber mit der effektiven Sicherung nicht nur sozialer Minima, sondern basaler Gleichheitsrechte gesellschaftlicher Teilhabe und Beteiligung. An der „sozialen Frage" scheiden sich die Geister einer Abkehr vom Wachstumsregime: Die Postwachstumsgesellschaft wird egalitär sein - oder autoritär werden müssen.

Ausgewählte Veröffentlichungen

Die Wiederaneignung des Sozialen, in: Matthias Machning (Hrsg.), Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand, Campus, Frankfurt am Main (2011)

Soziologie - Kapitalismus - Kritik. Eine Debatte, Suhrkamp, Frankfurt am Main (mit Klaus Dörre/Hartmut Rosa) (2009)

Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Transcript, Bielefeld (2008)

Ausgewählte Zitate

"Der wohlfahrtsstaatliche Vergesellschaftungsmodus hat funktional wie legitimatorisch stets vom „Mehr" gelebt. Wachstum und Wohlfahrt sind hier aufs engste miteinander verkoppelt: Es geht um die Umverteilung jener Teile des materiellen Mehrprodukts, die nicht privat angeeignet werden. Für die Soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit („Wohlstand für alle") wie den heutigen Aktivierungsstaat („Bildung für alle") gilt die produktivistische Leitlinie, dass Lebenschancen, Teilhabe, Zugehörigkeit oder jede beliebige andere soziale Wertbestimmung nur durch die permanente Steigerung des wirtschaftlichen Wertprodukts zu realisieren sind. Und zumal gegenwärtig dominiert eine (an den soziologischen Klassikern geschulte) gesellschaftspolitische Programmatik, wonach auf „soziale Probleme" aller Art schlicht mit „mehr Integration" (Münch) in die Werte- und Statusordnung der Erwerbsgesellschaft zu reagieren sei."
In: Von der Krise zur Transformation des Wohlfahrtsstaates? 

"Deutlich spürbar ist mittlerweile vor allem die Tatsache, dass ausgerechnet jene Strategien, die zur Überwindung der ökonomischen Krise führen sollen, tendenziell zur Verschärfung der ökologischen Krise beitragen. Gleichwohl stellen weder Unternehmen, Regierungen noch die wichtigsten gesellschaftlichen Kollektivakteure die Wachstumsorientierung bislang ernsthaft in Frage."
In: Jenseits des Wachstums

"Hier werden in dem Versuch, passförmige Subjekte für den flexiblen, beschleunigten, landnehmenden Kapitalismus zu schaffen, hier werden neue Standards, neue Normen gesetzt, die viele nicht erreichen können, die systematisch Gewinner und Verlierer produzieren. Wir haben hier eine Reproduktion sozialer Ungleichheit auf einem neuen Niveau und mit einer neuen Rolle des Staates und öffentlicher Institutionen. Die Aktivierungslogik beruht aber auch darauf, das nicht als äußeren Zwang erscheinen zu lassen, sondern den Aktivierungswillen der Menschen selber anzureizen und sie zu einer Selbststeuerung anzuhalten im Interesse von höheren Steuerungszielen."
Interview: "Die Zeit lässt sich nicht steigern. Die sozialen Folgen des Wachstumszwangs"