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Sighard Neckel

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Sighard Neckel (geboren 1956) ist Professor für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Mitglied der Leitung des dortigen Instituts für Sozialforschung. Er studierte bis 1983 Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Bielefeld und der Freien Universität Berlin. Bis 1997 blieb er an der Freien Universität Berlin, wo er 1990 zum Thema „Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit" zum Dr. phil. promovierte. Nach einem Aufenthalt an der Duke University in North Carolina habilitierte er sich 1997 im Fach Soziologie. Seinen ersten Ruf erhielt er an die Universität Siegen. Nach weiteren Professuren in Wuppertal, Gießen und Wien lehrt er seit dem Wintersemester 2011 in Frankfurt. In seiner Forschung konzentriert er sich auf die Soziologie des Ökonomischen, symbolische Ordnungen sozialer Ungleichheit, Emotionssoziologie, Kulturforschung, Wissenssoziologie und Soziologische Ethnographie.

Kurzstatement

Auf den Finanzmärkten der Gegenwart müssen immer größere Summen eingesetzt und höhere Risiken in Kauf genommen werden, um bei den Renditen nur annähernd gleiche Wachstumsraten zu erzielen. Der Return on Investment, der sich durch diese Steigerungslogik von wachsendem Kapitalumsatz in je kürzerer Zeit bei höherem Risiko realisieren soll, hat sich jedoch zum ökonomischen Paradox eines Wachstums von Schäden verwandelt. Wenn spekulative Gewinninteressen mit lebenswichtigen Gütern wie Rohstoffen hantieren, Kreditausfallrisiken auf unbeteiligte Dritte abgewälzt werden, Verbriefungen dem Fernhandel eigener Außenstände dienen und spekulative Verluste privater Anleger durch die Verschuldung des Gemeinwesens aufgefangen werden müssen, kumulieren sich die schädlichen Folgen einer wirtschaftlichen Entwicklung, die keine Haftung und keine Verantwortung kennt. Die Chance einer Abkehr vom Wachstumszwang besteht darin, der Spirale von Schäden, die sich durch die Gesellschaften schraubt, das widerständige Material einer gesellschaftlichen Ökonomie entgegenzusetzen, die vielfältigere Austauschbeziehungen kennt als die Gewinnmaximierung auf Kosten kollektiver Güter und ökologischer Nachhaltigkeit. Die Funktionsfähigkeit von Gesellschaft und demokratischer Ordnung sieht sich dadurch strapaziert, dass die Folgen des ökonomischen Schadenswachstums auf die Bevölkerungsgruppen verteilt werden müssen. Demokratie kann in der Wahrnehmung hierbei benachteiligter oder verunsicherter Bevölkerungsgruppen als politische Versicherung durchsetzungsstarker wirtschaftlicher Interessen erscheinen. Eine ökonomische und ökologische Kehrtwende vermag deshalb im selben Maße einen Beitrag zur Stärkung demokratischer Prozesse zu leisten, wie es das demokratische Gemeinwesen delegitimiert, wenn es in der öffentlichen Wahrnehmung als Gewährleistungsstaat der Finanzmärkte auftritt.

Ausgewählte Veröffentlichungen

Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft, MPIfG Working Paper 10/6, Köln (2010)

Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt, Suhrkamp, Berlin (mit Claudia Honegger/Chantal Magnin) (2010)

Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik, Campus, Frankfurt/M., New York (Hrsg.) (2010)

Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Campus, Frankfurt am Main (2008)

Politisierter Konsum - konsumierte Politik, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden (mit Joern Lamla) (2006)

Ausgewählte Zitate

"Na ja, wir können sagen, dass sich das Bild des Unternehmerischen sehr verändert hat. Wir finden in der klassischen Industriegesellschaft den Unternehmer, der paternalistisch wie ein Vater seine Untergebenen regierte und der für das Wohl seiner Beschäftigten versuchte zu sorgen [...]. Und wir haben heute eben den globalen Investor, der auf den Finanzmärkten tätig ist und der sein Geld sofort zurückzieht, wenn das Risiko zu groß ist, und der sich unter anderem auch deswegen vom klassischen Unternehmer des bürgerlichen Zeitalters unterscheidet, weil er für sein wirtschaftliches Handeln kein eigenes Risiko mehr trägt. Das Risiko, wie wir alle in den letzten Jahren gesehen haben bei Finanztransaktionen, bei Finanzspekulationen, wird an Dritte übergeben, an die Steuerzahler, die dann die Ausfallbürgschaften zu übernehmen haben. Und diesen Wandel sprechen wir unter anderem an, wenn wir davon reden, dass es durch den Finanzmarktkapitalismus neue Oberschichten gibt, die so etwas wie aristokratische Privilegien in der Gegenwart genießen, nämlich eine unvergleichbar andere Lebensform, unvergleichbar hohe Einkünfte, die sich jeder Vergleichbarkeit gegenüber anderen Einkünften entziehen. Wenn die Topmanager von Hedgefonds und der Finanzindustrie über das 350-Fache der durchschnittlichen Monatseinkommen von Beschäftigten verdienen, dann hat das mit einem bürgerlichen Wettbewerb und Marktprinzip nichts mehr zu tun, dann haben wir tatsächlich eine entrückte Oberklasse, die sich aus dem bürgerlichen Zeitalter der Vergleichbarkeit eigentlich verabschiedet hat."
Interview: "Herkunft spielt stärkere Rolle für sozialen Aufstieg als vor 30 bis 40 Jahren"

"Wir brauchen eine ethische Rückbindung ökonomischen Handelns. Und genau dies fordern soziale Bewegungen und die Öffentlichkeit heute ja ein. Wenn etwa kritisiert wird, dass sich finanzielle Gewinne von Leistungen völlig entkoppelt haben, verteidigt die moderne Gesellschaft nichts weiter als ihre eigene normative Geschäftsgrundlage."
Interview: "Gestatten, mein Name ist Geldadel"

"Denn mehr noch, als dass der Konsumkapitalismus dauerhaft die Vorstellung entkräftet hat, dass allein im Jenseits Entlohnung für Anstrengung und Verzicht zu erhalten sei, stellt sich in soziologischer Hinsicht die Frage, wer heute eigentlich die Rolle jener sozialen Schichten einnehmen soll, die einst die Maximen des bürgerlichen „Sparkapitalismus" (Dahrendorf) getragen haben. Die historische Verbindung von Kapitalismus und Bürgerlichkeit gelangt im 21. Jahrhundert offenbar an ein Ende. Längst hat sich im Wirtschaftsleben ein Neofeudalismus der Begüterten ausgebreitet, der in seinem Hang zur Verschwendung ganz und gar unbürgerlich ist. Mit dem Absterben des Familienkapitalismus scheint auch eine bestimmte Sittlichkeit verloren gegangen zu sein, deren Ideal Max Weber in seiner These vom protestantischen Geist des Kapitalismus einst bündig formuliert hatte."
In: Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft, MPIfG Working Paper 10/6, Köln (2010)