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Wulf Schiefenhövel

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Wulf Schiefenhövel (geboren 1943) ist Anthropologe und Mediziner und leitet am Max-Planck-Institut für Orntithologie in Andechs die Gruppe Humanethologie. Von 1963 bis 1969 studierte er Medizin in München und Erlangen. Während des Studiums reiste er bereits 1965/66 das erste Mal nach Neuguinea, um traditionelle medizinische Bräuche vor Ort zu untersuchen.  Neuguinea, Indonesien und Melanesien sind bis heute seine regionalen Forschungsschwerpunkte. 1984 habilitierte er sich in medizinischer Psychologie und Ethnomedizin mit der Habilitationsschrift „Geburts- und Reproduktionsverhalten bei den Eipo und den In im Hochland von West-Neuguinea" an der Universität München. Seine Hauptforschungsgebiete sind Humanethologie, die Anthropologie der Kulturen in Papua und Austronesien sowie evolutionäre Psychiatrie. Er ist Autor von mehr als 250 Aufsätzen. Ferner hat er 24 Bücher als Autor oder Editor verantwortet und ist Mitherausgeber der Zeitschrift "curare - Journal for Ethnomedicine and Transcultural Psychiatry".

Kurzstatement

Primär treibt uns unsere biopsychologische Natur. Zwar mussten sich unsere altsteinzeitlichen Vorfahren, wie Birger Priddat sagt, in „ökologische Nischen einpassen", doch sind wir von Natur aus Maximierer, zudem haben Status und Einfluß einen zentralen Wert. Das sieht man z.B. daran, dass die frühesten Perlenketten schon eine verschwenderische Ansammlung von seltenen Kostbarkeiten sind (vgl. auch das berühmte Bernstein-Collier im Ingolstädter Stadtmuseum). Papua Gesellschaften in Hochland-Neuguinea veranstalteten Feste, bei denen ungeheure Werte zur Schau und den Gästen teilweise zur Speise geboten wurden. Ein zentrales Pro-blem besteht darin, dass (soweit bisher bekannt, nur bei Männern) Erfolg im Wettstreit mit Anderen durch einen Schub an Testosteron und damit höherer Vitalität und besseren Wohlbefindens belohnt wird. Für diesen Mechanismus gibt es keine abschaltende Endhandlung wie bei Durst, Hunger und Orgasmus. Stattdessen eine rauschhafte Aufwärtsspirale.
Der bestehende wirtschaftliche Ordnungsrahmen hat sich weit von der Sozialen Marktwirtschaft entfernt und wird zu großen Teilen von neoliberalen Maximen beherrscht. Die wahren Bedürfnisse der Menschen und die Endlichkeit der Ressourcen und des Wachstums geraten dabei aus dem Blick.Der Kapitalismus ist im Prinzip marktgesteuert und daher das vernünftigste System - jedoch ein Kompromiss mit vielen Problemen. Die „unsichtbare Hand" ist gierig und führt zu gravierenden Fehlentwicklungen. Der Staat muss klare Regeln schaffen und ihre Einhaltung überwachen, dann sind akzeptable Voraussetzungen geschaffen.
Es erscheint durchaus möglich, dass es zu einem vollständigen Kollaps des derzeitigen kapitalistischen Systems kommt. Die bisherigen Zusammenbrüche wären dann nur ein Menetekel gewesen. Bei der Endlichkeit vieler Ressourcen kann es kein stetiges Wachstum geben. Die Fehlentwicklungen in den USA und in den eigenen Ländern vor Augen könnte Europa als kluger Lotse fungieren. Doch seine politische Klasse will wiedergewählt werden. Wer wird den Mut haben, auf die Bremse zu treten? Zumal China und Indien ihren eigenen Interessen und eigenen gesellschaftspolitischen Maximen folgen werden. Demokratie und Kapitalismus sind vielleicht nur eine kleine Blase im Wirbelstrom der Geschichte.

Ausgewählte Veröffentlichungen

Homo discens, Homo docens - Kulturvergleichende und evolutionsbiologische Perspektiven einer "History of Humankind", in: W.M. Egli/U. Krebs (Hrsg.), Beiträge zur Ethnologie der Kindheit. LIT Verlag, Münster (2004)

Mängelwesen Homo sapiens? - Vom Menschenbild in Anthropologie und Medizin, in: H. Hinterhuber/M.P. Heuser/U. Meise (Hrsg.), Bilder des Menschen. Das Menschenbild der Psychiatrie, der Medizin, der Religion und Künste, der Kultur- und Sozialwissenschaften, Innsbruck (2003)

The Illustrated History of Humankind, Jahr Verlag, Hamburg (Hrsg. mit G. Burenhult/P. Rowley-Conwy/D. Hurst Thomas/J. P. White) (1993, 1994)

Der Mensch in seiner Welt, drei Bände, TRIAS Thieme Hippokrates Enke, Stuttgart (Hrsg. mit Ch. Vogel, G. Vollmer, U. Opolka) (1994).

  • Bd. 1 Vom Affen zum Halbgott: der Weg des Menschen aus der Natur
  • Bd. 2 Zwischen Natur und Kultur: der Mensch in seinen Beziehungen
  • Bd. 3 Gemachte und gedachte Welten: der Mensch und seine Ideen

Ausgewählte Zitate

„Ich kenne keine Kulturen mit urbaner Struktur, die ihre Reiche ohne Wachstum über längere Zeit behaupten konnten. Das ist eine ziemlich schreckliche Erkenntnis. Die Wachstumsdynamik scheint nötig, um Staaten aufzubauen, um Herrschaft auszuüben und Macht zu sichern. [...] Es ist in uns Menschen drin, und es ist ja ganz vernünftig! Wir sind auf das Überleben programmiert, und da ist es immer am besten, wenn ein bisschen mehr übrig bleibt, als wir momentan brauchen. Seit Urzeiten machen wir diese Erfahrung: Ein Überschuss an Ressourcen, der ursprünglichste Luxus sozusagen, besteht darin, die nächste Not mit dem angehäuften Vorrat zu überstehen."
Interview: "Wir scheitern am Verzicht"

„Das Testen der eigenen Grenzen, das Ausreizen des maximal Möglichen - wie die Besiedlung des Pazifik-Raums vor über 4000 Jahren mit einfachsten Schiffen - das ist ein ganz tief in uns verwurzelter Antrieb. Die Begeisterung für Mobilität gehört zu unserer biopsychischen Grundausstattung."
Interview: „Der Mensch ist kaum zu bremsen"

„Unsere mentalen, kognitiven Strukturen reichen vielleicht dazu aus, maximal bis zu den Enkeln vorauszuplanen. Aber in der Regel scheitert man, wenn es darum geht, sich einzuschränken. Vor allem, wenn der Profit erst übermorgen zu spüren sein soll. Dazu kommt noch eine persönliche Gier nach mehr, das sieht man bei allen Völkern, es steckt sicherlich in unseren Genen. Wenn es Strukturen gibt, diese Gier zu befriedigen, dann gibt es Wachstum."
Interview: "Wir scheitern am Verzicht"