Zeit zu handeln


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Wolfgang Streeck

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Wolfgang Streeck (geboren 1946) studierte Soziologie in Frankfurt und an der Columbia University in New York. 1986 wurde er an der Universität Bielefeld mit der Sammlung seiner Aufsätze zur Soziologie des Arbeitsverhältnisses habilitiert. Von 1988 bis 1995 war er Professor für Soziologie an der Universität von Wisconsin-Madison, USA. Seit 1995 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und Mitglied der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftli­chen Fakultät der Universität zu Köln. Seine Forschungsgebiete sind vergleichende politische Ökonomie, Theorien institutionellen Wandels und das Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Politik und kapitalistischer Wirtschaft. 

Kurzstatement

„A rising tide lifts all boats". So konnten in der Wachstumsphase des Nachkriegskapitalismus die Verteilungskonflikte der Zwischenkriegszeit suspendiert werden. Seit Jahrzehnten aber geht das Wachstum in den reichen Ländern des demokratischen Kapitalismus zurück, während nicht nur die Schuldenlast zunimmt, sondern mit ihr die soziale Ungleichheit, die strukturelle Arbeitslosigkeit und die prekäre Beschäftigung am unteren Rand der Gesellschaft. Zugleich verfällt die Legitimität der Demokratie. Bleibt das Wachstum niedrig, dann ist der alten Logik der kapitalistischen „Leistungsgesellschaft" zufolge mit einer weiteren Intensivierung des Wettbewerbs und der Verteilungskonflikte zu rechnen. Wie müsste eine Politik aussehen, die eine Spaltung der Gesellschaft nach dem Prinzip der kumulativen Bevor- und Benachteiligung in eine immer kleinere Zahl immer reicherer Gewinner und eine wachsende Masse immer weiter abgehängter Verlierer verhindern könnte? Erneuerte Solidarität in einer Postwachstumsgesellschaft würde neue, die Geldwirtschaft transzendierende Produktions-, Arbeits- und Leistungsmodelle erfordern, die der monetären „Plusmacherei" Grenzen setzen; ein neues Zeitregime, das den Bedürfnissen von Familien mit Kindern und pflegebedürftigen Alten gerecht wird; neue Konsummodelle, die kollektive und nicht monetarisierbare Güter aufwerten; und neue Geldmodelle, die dem Versprechen einer unendlichen Anhäufung und Selbstvermehrung monetärer Ressourcen ein Ende setzen. Die zahlreichen konkreten Utopien einer weniger kompetitiven, weniger possessiv-individualistischen, weniger von ostentativem Konsum besessenen und weniger ressourcenverzehrenden Lebensweise müssen sehr ernst genommen werden, wenn mit dem Wachstum nicht auch die einheitstiftende Rolle der Politik verschwinden soll.

Ausgewählte Veröffentlichungen

How to Study Contemporary Capitalism? In: European Journal of Sociology 53 (1), S. 1-28 (2012)

Does 'behavioural economics' offer an alternative to the neoclassical paradigm? In: Socio-Economic Review, Vol. 8 (2), S. 387-397 (2010)

Re-Forming Capitalism: Institutional Change in the German Political Economy, Oxford University Press, Oxford (2009)

The Diversity of Democracy: Corporatism, Social Order and Political Conflict, Edward Elgar, London (mit Colin Crouch) (2006)

Wirtschaft und Moral: Facetten eines unvermeidlichen Themas, in: Wolfgang Streeck/Jens Beckert (Hrsg.), Moralische Voraussetzungen und Grenzen wirtschaftlichen Handelns. Forschungsbericht aus dem MPIfG 3, Köln, S. 8-18 (2007)

Ausgewählte Zitate

"I am looking for signs of an impending cultural break with possessive individualism, competitive greed, hedonistic consumerism. This is a tall order indeed, but I feel nothing less would do. Beyond "protest" or calls for "reform," what would be interesting to see are actual changes in people's ways of life, some kind of separatism and recapturing of local autonomy, with people cutting themselves loose from the capitalist mainstream and becoming less dependent on it, materially and mentally: a way of life where time matters more than money, ideal goods more than material ones, and social bonds more than individual property."
Interview: The Current Moment

"Kapitalismus bedeutet ständige Veränderung als Folge des "freien Spiels" der Märkte. Schumpeter nennt das "kreative Zerstörung". Märkte bedeuten Zuteilung von Lebenschancen nach Marktpreisen. Gesellschaften sind aber weniger "flexibel" als die Märkte von ihnen erwarten, und sie haben, völlig legitimerweise, andere Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit. Bedürfnisse nach sozialer Stabilität, Sicherheit, sozial korrigierter Verteilung, wie sie durch demokratische Institutionen artikuliert werden, geraten in Konflikt mit der Dynamik der Märkte und den Verteilungsansprüchen derer, die "marktgerecht" entlohnt werden wollen. In den Nachkriegsjahren, den "glorreichen Dreißig", wie die Franzosen sagen, war dieser Konflikt durch hohe Wachstumsraten und tiefgreifende Regulierung der Märkte, insbesondere der Kapitalmärkte, weitgehend stillgelegt. Es gab in allen westlichen Ländern einen expandierenden Sozialstaat, funktionsfähige Gewerkschaften, Tarifautonomie, eine politische Vollbeschäftigungsgarantie. Diese Phase prägt immer noch unsere Vorstellungen darüber, was demokratischer Kapitalismus ist. Aber solche Wachstumsraten waren eben eine Ausnahme. Es hat sie seither nie wieder gegeben."
Interview: "Das Dopingregime des des Pump-Kapitalismus ist lebensgefährlich"

"Überall steigt die soziale Ungleichheit dramatisch an, selbst in Schweden. Dabei kommt es in der Tat zu den erstaunlichsten Gemengelagen. Die Mittelschicht hat ihr Geld oft in Staatsanleihen, weil die ja sicher sein sollen. Als Bürger wollen wir, dass der Staat für Bildung, Gesundheit, gute Straßen und sozialen Ausgleich sorgt. Als Sparer sind wir an einer guten Rendite auf unsere Einlagen interessiert. Damit wollen wir, dass die "Märkte" die Staaten dazu zwingen, eben jene Austeritätspolitik zu betreiben, unter der wir als Bürger leiden. Da geht dann der Konflikt zwischen Marktgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit mitten durch den Einzelnen. Das heißt aber nicht, dass das kein sehr realer Konflikt wäre oder dass er sich nicht heute dramatisch zugespitzt hätte."
Interview: "Das Dopingregime des des Pump-Kapitalismus ist lebensgefährlich"