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Die Utopie beginnt jetzt

Zwischenruf von Sighard Neckel

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Sighard Neckel vergrößern

Wir leben in einer vierfachen Krise, die jede Aussicht auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel scheinbar verstellt. Ökonomisch zeigt die Finanzkrise des europäischen Staatensystems, dass die unbegrenzte Expansion von Märkten, Gewinnen und Konsum in das Desaster einer rettungslosen Verschuldung mündet. Ökologisch führt das ökonomische Wachstumsregime zur Vernutzung der Biosphäre und ihrer Ressourcen. Sozial scheitern zahlreiche Bevölkerungsgruppen daran, den Gefahren wirtschaftlicher Deklassierung zu entgehen, während sich im Erschöpfungssyndrom des Burnout die Auszehrung individueller Kräfte manifestiert, im Wettbewerb um Lebenschancen durchhalten zu können.

Trotz dieser Krisenkonzentration scheint eine Politik gesellschaftlicher Veränderung heute kaum zu überzeugen. Nur wenige Menschen versprechen sich von einem abrupten „revolutionären" Wandel eine bessere Welt. Eher im Gegenteil. Aber auch der „reformerische" Versuch, den Kapitalismus zu „zähmen", ließ zumeist nur Enttäuschung zurück. Doch haben sich überall (nicht nur) in den westlichen Ländern Projekte „gelebter Alternativen" entwickelt, die der amerikanische Soziologe Erik Olin Wright „Real Utopias" nennt. Solche Utopien einer anderen Wirklichkeit streben eine „lokale" Gesellschaftsveränderung an, den Aufbau von Lebens- und Arbeitsformen, die sich den Krisenprozessen entziehen und widersetzen. Solidarische Ökonomien (auch neue Banken!) entstehen. Grundlegende ökonomische Prinzipien wie Gegenseitigkeit und Subsistenz werden (wieder)entdeckt. Neue Kollektivgüter entstehen und Millionen von Menschen beteiligen sich weltweit an einer Ökonomie der Gabe, die den freien Zugang zu Musik, Filmen, Daten, Software und Informationen betreibt. Tauschbörsen, Regionalhandel und nachhaltige Produzenten verwandeln alltägliche Praktiken. Solche „realen Utopien" verändern die Gesellschaft in dem Maße, wie sie andere Wirklichkeiten schaffen und somit Alternativen zu dem, was sich als unveränderlich begreift. Die Utopie beginnt jetzt.

Sighard Neckel ist Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung.


Kommentar von Eberhard von Goldammer zum Zwischenruf
"Die Utopie beginnt jetzt" von Sighard Neckel

Liebe Denkwerkler, lieber Herr Kollege Neckel:

Die Utopie beginnt jetzt! - das klingt gut! Aber wo beginnt sie beispielsweise in den Schulen und vor allen Dingen in den Hochschulen - mit anderen Worten: Wo beginnt sie in den Köpfen?

Glauben Sie wirklich im Ernst, dass man mit den gleichen Denkwerkzeugen, die zu den heute sichtbar gewordenen Problemen geführt haben, dass man mit diesen Denkwerkzeugen die Probleme auch wieder lösen kann? Das klingt verdächtig nach dem Baron von Münchhausen, dem Sumpf und seinem Zopf.

Sie vertrauen einer Graswurzelbewegung - auch das klingt gut! Wenn Sie aber genauer hinsehen, dann fehlt allen diesen Bewegungen ein klares Ziel - man könnte auch sagen: diese Bewegungen sind zwar sehr idealistisch aber vor allen Dingen sind sie zahnlos - oder glauben Sie, dass die Aktionäre der Rüstungsindustrie oder die Wall-Street-Bangster darüber in schlaflose Nächte verfallen? Die Ökologie- und/oder Friedensbewegung sind mir nun schon seit mindestens 40 Jahren bestens vertraut. Hat sich in der Gesellschaft - und da genügt es ja nicht, sich nur in Deutschland oder Europa umzusehen -, hat sich da wirklich im positiven Sinne viel verändert? Da habe ich meine Zweifel, wenn ich mich in der Welt von heute so umsehe - ich habe eher den gegenteiligen Eindruck.

Wo sind die neuen Denkansätze, die neuen Denkwerkzeuge? An den Universitäten passiert wenig, um nicht zu sagen, es passiert gar nichts. Ein Beispiel: Wie will eine Kultur/Gesellschaft, in der es aus formal-logischer Sicht noch nicht einmal ein DU gibt, wie will man in einer derartigen Gesellschaft eine Theorie des Lebens entwickeln? Vielleicht sollte man sich einmal fragen, ob heute nicht eine ganze Generation von Studenten verbildet anstatt gebildet wird. Wie soll sich da in absehbarer Zeit etwas im positiven Sinne verändern, das sehe ich nicht. Was dabei herauskommt, das können Sie sich beispielsweise in dem sehr erfrischenden Beitrag "Alternativlos-Folge-29" anhören ... nehmen Sie sich dafür aber genügend Zeit mit, es ist eine etwas längere Diskussion.

Es gab und gibt eine Reihe konkret formulierter Utopien - allen voran die "Träume" von André Gorz. Ich behaupte, dass alle diese "Träume" solange nicht funktionieren können, solange die Gesellschaft nicht erkennt, dass die Denkwerkzeuge, mit deren Hilfe sie den heutigen Stand ihrer (abendländischen) Kultur erreicht hat, dass diese Denkwerkzeuge nicht geeignet sind, derartige gesellschaftliche Transformationen auch nur konzeptionell zu denken, geschweige denn sie zu realisieren. Mit anderen Worten: Wir befinden uns am Ende einer Kulturstufe, das hat übrigens Oswald Spengler (und nach ihm Arnold Toynbee) schon vor ca. 100 Jahren treffend beschrieben. Die Frage ist doch, ist da noch eine weitere Kulturstufe denkbar, die weder Spengler noch Toynbee gesehen haben und die wir nicht sehen (können), weil sie dem berühmten "blinde Fleck" entspricht?

Der Ökonom Herman E. Daly, einer der Vordenker des nachhaltigen Wirtschaftens, stellt im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches "Beyond Growth" (Wirtschaft jenseits von Wachstum) eine sehr interessante Frage, die vieles auf den Punkt bringt:

"'Ist es möglich, ein Zufallsprodukt zu lieben?' oder deutlicher auf den Punkt gebracht: 'Ist es einem Zufallsprodukt möglich, ein anderes Zufallsprodukt zu lieben?' Diese Frage ergab sich, weil mir scheint, dass Umweltschützer Opfer fordern, welche keinesfalls gebracht werden ohne eine tiefe und beständige Liebe zur Schöpfung und zu unseren Mitgeschöpfen, zusam­men mit einer aufrichtigen Dankbarkeit unserem Schöpfer gegenüber und im Vertrauen darauf, dass unser Dasein letztendlich nicht ohne Sinn ist. Allein das Wort Schöpfer stört viele und schreckt wahr­scheinlich die meisten - modernen Wissenschaftler ab, speziell Biologen und Ökologen, die ja im Großen und Ganzen eine neodarwinistische Weltsicht haben. Wenn man davon überzeugt ist, dass die Welt und das Leben im wesentlichen ein kosmischer Zufall sind, restlos erklärbar durch zufällige Veränderung und natürliche Auslese, warum sollte dann jemand dieses zufällige Ereignis ausreichend lieben, um Opfer für seinen Schutz oder den Schutz von Teilen von ihm zu bringen? Warum sollte man überhaupt auf irgendwelche rationale oder moralische Fähigkeiten vertrauen, wenn deren Ursprünge ausschließlich von irrationalen und amoralischen Vorgängen abhängen, gleichgültig wie lange diese schon zurückliegen? Deshalb war meine Frage: 'Ist es möglich, ein Zufallsprodukt zu lieben?', oder: 'Kann ein Zufallsprodukt ein anderes Zufallsprodukt lieben?'"

Und in dem Abschnitt "Nachhaltige Entwicklung, Wissenschaft und Religion" vertieft er (Daly) diese Gedanken noch einmal und hat sogar das letzte Kapitel seines Buches diesem Fagenkomplex gewidmet. Auch Herman Daly scheint irgendwie klar zu sein, dass wir heute mit der Religion diese Probleme wohl nicht lösen werden.

Ich würde sogar so weit gehen und fragen, ob nicht die monotheistischen Religionen sogar ein Teil der Probleme, so wie sie uns heute global begegenen, darstellen? Allerdings kann ich den Gedankengängen der selbsternannten "Nachfahren" von Giordano Bruno nicht folgen. Wir hatten hier in Dortmund im Jahr 2010 Herrn Schmidt-Salomon von der Girodano Bruno Stiftung zu Gast, der einen flammenden Vortrag hielt - nachzulesen kann man das noch hier

Das Motto diese Vortrags war schlicht und ergreifend "Gott ist tot". Man kann dem zustimmen oder auch nicht - faktisch ist es aber wohl so: "Gott ist tot!" ­ - und nun? Was hilft diese Feststellung eigentlich? Was weder die Gottlosen noch ihre Gegner sehen, ist, dass die Denkwerkzeuge sich nicht verändert haben (s. Zitat von Daly). Anders gewendet: Gott wurde zwar vom Sockel gestürzt und mit ihm die Mythen um ihn herum, aber der Sockel steht immer noch da! Das ist ähnlich wie mit der Statue von Stalin in Moskau, von der der Kybernetiker Heinz von Foerster in einem lesenswerten Interview berichtet.

Angeregt durch das Buch von Herman Daly sowie von den Essays von André Gorz und auf Nachfrage eines Kollegen, der Mitherausgeber der Zeitschrift "Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaften" ist, habe ich mich - als Naturwissenschaftler, der ich nun einmal bin - auf ein mir fremdes Terrain gewagt, um das Folgende zu begründen:

Ohne einen fundamentalen Wandel unseres Wissenschaftsparadigmas, das durch die 2000 Jahre alte Logik des Aristoteles sowie der darauf aufbauenden Mathematik geprägt wurde, wird es nichts mit diesen gesellschaftlichen Utopien. Dieser fundamentale Wandel betrifft vor allem das Gebiet der so genannten Geisteswissenschaften oder allgemeiner der "Wissenschaften vom Leben". Bei diesem Wandel kann es sich nur um eine Transformation hin zu dem, was man gemeinhin als "exakte Wissenschaften" bezeichnet, handeln. Auf der Basis unseres heutigen Wissenschaftparadigmas befinden sich diese Wissenschaftsgebiete in einer fatalen intellektuellen Sackgasse.

Welche Utopie hat denn heute wirklich begonnen? - Ich sehe da viel eher eine Dystopie, um im Bilde zu bleiben. Die Anzeichen für meine wenig optimistische Anschauung kann man heute mit den Händen greifen und es wird noch heftiger kommen, denn wir haben ein Versagen der Eliten auf der ganzen Linie. - Etwas ausführlicher habe ich versucht das in "Welches Wissen? - Welche Gesellschaft?" darzustellen.

Ich wollte mit meinem etwas kritschen Einwand niemanden zu nahe treten oder anderes gewendet: Meine Kritik gilt eigentlich der gesamten westlichen Gesellschaft, die sich in einem fast schon paranoid zu nennenden Zustand befindet (Oswald Spengler lässt grüßen). Ich habe schon eher Mitleid mit all den gut gemeinten Bewegungen, die Sie, lieber Herr Kollege Neckel aufzählen. Nehmen Sie doch nur die jungen Menschen, die man heute "Whistleblower" nennt, wie Bradley Manning oder Edward Snowden (wenn er erwischt wird), denen die Vertreter einer (geistig und auch materiell) weitgehend korrupten Gesellschaft gerade den Strick um den Hals legen - von offizieller Seite wird beispielsweise aus Europa dagegen kaum protestiert, obwohl es sich hier auch um ein humanes und nicht um ein ausschließlich nationales - also ein US-amerikanisches - Problem handelt, was uns alle angeht.

Mit freundlichen Grüßen

Eberhard von Goldammer

 

Kommentar von Heike Leitschuh zum Zwischenruf
"Die Utopie beginnt jetzt" von Sighard Neckel


Ich stimme Herrn Professor Neckel voll und ganz zu! Würde nur noch ergänzen wollen: Es gilt zugleich, die herrschende Politik und Ökonomie immer wieder mit diesen Real Utopias zu konfrontieren, um - nach und nach und Stückchen für Stückchen - deren Entwicklungsbedingungen zu verbessern.

Mit besten Grüßen

Heike Leitschuh