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Gesellschaftliche Indikatoren gewinnen bei der Wohlstandsmessung an Bedeutung

Immer mehr Vorschläge zur Messung des Wohlstands in Deutschland und Europa umfassen neben dem wirtschaftlichen und ökologischen Wohlstand auch Angaben zum gesellschaftlichen Wohlstand eines Landes. Ursächlich hierfür ist vor allem, dass sich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wohlstand zunehmend entkoppelt haben und damit die Entwicklung des BIP keine befriedigende Auskunft über den Verlauf des gesellschaftlichen Wohlstands mehr gibt. Bis in die 1970er und 1980er Jahre entwickelten sich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wohlstand im Gleichklang. Mit steigenden Einkommen und Konsummöglichkeiten nahmen auch Freizeit, Bildung sowie persönliche und politische Freiheiten zu. Seitdem tut sich zwischen materiellem Wohlstand und einer wachsenden Zahl von immateriellen Indikatoren eine Schere auf. Trotz steigenden materiellen Wohlstands werden die Familienstrukturen immer brüchiger, die Arbeitsplatzsicherheit sinkt und Zivilisationskrankheiten breiten sich aus. Immer deutlicher wird, dass die westliche Art zu wirtschaften nicht nur Raubbau an Natur und Umwelt sondern auch an Mensch und Gesellschaft betreibt und damit die Grundlagen ihres Erfolgs zerstört. Folglich können durch die Einbeziehung gesellschaftlicher Indikatoren in die Wohlstandsmessung nicht nur Aussagen über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft getroffen werden, sondern auch darüber, wie es um die Grundlagen der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung bestellt ist. Deshalb spricht vieles dafür, die gesellschaftliche Dimension in die Wohlstandsmessung einzubeziehen.

Die Qual der Wahl

Gesellschaftlicher Wohlstand kann auf vielerlei Art ausgedrückt werden. Zwar gilt dies in gewisser Weise auch für den materiellen und ökologischen Wohlstand. So kann der materielle Wohlstand durch das BIP pro Kopf, die Einkommensverteilung oder die Nettoinvestitionsquote gemessen werden. Zur Messung des ökologischen Wohlstands stehen beispielsweise der Ökologische Fußabdruck, Treibhausgasemissionen pro Kopf oder der so genannte Vogelindex[1] zur Verfügung.

Der Zustand der Gesellschaft umfasst jedoch noch deutlich mehr Indikatoren. Dies zeigt ein Blick auf die Indikatoren, die für die gesellschaftliche Wohlstandsmessung derzeit verwendet bzw. vorgeschlagen werden (Tabelle). Die Indikatoren informieren über so unterschiedliche Bereiche wie Beschäftigungs- und Bildungsniveau, Lebenserwartung und Armutsquote oder individuelle Lebenszufriedenheit und politische Teilhabe.

Tabelle: Ausgewählte Indikatoren zur Messung gesellschaftlichen Wohlstands

Institution

Wohlstandskonzept
(Zahl der Indikatoren)

Gesellschaftlicher Indikator

Statistisches Bundesamt

Nationale Nachhaltigkeitsstrategie-Indikatorenbericht
(38)

u.a. Erwerbstätigenquote,
Ganztagsbetreuung für Kinder

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Conseil d'Analyse Economique

Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem
(25)

u.a. politische Einflussnahme und Kontrolle, Häufigkeit
sozialer Kontakte

EU

European Sustainable Development Strategy ESDS
(11)

u.a. gesunde Lebensjahre,
Armutsgefährdung

OECD

Better Life Index
(24)

u.a. Unterstützung durch soziale Netzwerke, individuelle Lebenszufriedenheit

New Economic Foundation/
Friends of the Earth

Happy Planet Index
(3)

Lebenszufriedenheit,
Lebenserwartung

Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität"

Wohlstandsindikatorensatz
(20)

u.a. Beschäftigungs-
quote, Bildungsquote,
Voice & Accountability

Bündnis 90/Die Grünen

Wohlstandskompass
(4)

individuelle Lebenszufriedenheit

Die Linke

Trio der Lebensqualität
(3)

1/50-Vermögensrelation

Denkwerk Zukunft

Wohlstandsquintett
(5)

gesellschaftliche Ausgrenzungsquote

Quelle:   Denkwerk Zukunft (2013)

Objektive und subjektive Indikatoren zur Messung gesellschaftlichen Wohlstands

Dabei werden sowohl objektive als auch subjektive Indikatoren zur Messung des gesellschaftlichen Wohlstands herangezogen. Für die Verwendung objektiver Indikatoren wie Bildungsstand oder Lebenserwartung spricht, dass sie ausreichend dokumentiert, empirisch gesichert sowie historisch und international vergleichbar sind. Subjektive Indikatoren beruhen dagegen auf repräsentativen Befragungen. Deshalb können sie von Stimmungslagen abhängen, was ihre historische Vergleichbarkeit erschwert. Auch sind sie international nicht so gut zu vergleichen, da sie von kulturellen Unterschieden geprägt werden. So sind bestimmte Völker zufriedener als andere, obwohl beispielsweise ihre Einkommensungleichheit größer ist.[2]

Trotzdem sollten subjektive Indikatoren bei der Messung gesellschaftlichen Wohlstands berücksichtigt werden. Denn Lebensqualität und Wohlstand einer Region oder eines Landes können nur angemessen beurteilt werden, wenn es gelingt, die subjektive Sicht der betroffenen Menschen zu erfassen. Wohlstand wird nicht nur durch objektive Daten zu unterschiedlichen Lebensbereichen erfasst, sondern auch druch die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der jeweiligen Lebenssituation.

Wohlstandindikatorensatz der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität"

Mit vier Leitindikatoren und drei Warnlampen spielt der gesellschaftliche Wohlstand im Konzept der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" eine wichtige Rolle (Schaubild 1).

Schaubild 1:  Der Indikatorensatz der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" 

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Quelle:   Abschlussbericht Projektgruppe 2 "Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschritts­indikators", Deutscher Bundestag, Kommissionsdrucksache 17(26)87 vom 28. Januar 2013, S. 75

Allerdings überwiegen hier objektive Indikatoren. Die gesellschaftliche Befindlichkeit kommt lediglich im Weltbankindikator "Voice & Accountability" zum Ausdruck. Dieser erfasst neben der Bewertung der Meinungs-, Koalitions- und Pressefreiheit, wie die Bürger ihre Teilhabe an der Auswahl ihrer Regierung wahrnehmen.[3] Da er sich aus elf verschiedenen Datensätzen, bestehend aus 36 Indikatoren unterschiedlicher Quellen zusammensetzt, die zum Teil aus weiteren Unterindikatoren bestehen, ist er allerdings zu komplex und intransparent als dass er in der Bewertung des gesellschaftlichen Wohlstands eine prominente Rolle spielen könnte.

Dies gilt auch für den von der Enquete-Kommission vorgelegten Wohlstandsindikatorensatz insgesamt. Mit zehn Leitindikatoren, neun Warnlampen und einer Hinweislampe ist er hoffnungslos überladen und deshalb nicht geeignet, die Verengung der Wohlstandsdefinition auf das BIP zu überwinden.

Wohlstandskompass der Grünen

Da die Grünen den Wohlstandsindikatorensatz der Enquete-Kommission sowohl hinsichtlich der politischen Kommunikation als auch der politischen Steuerung für ungeeignet hielten, legten sie in der Enquete-Kommission einen eigenen Vorschlag zur Wohlstandsmessung vor. In Anlehnung an das 2010 veröffentlichte Wohlstandsquartett[4] des Denkwerks Zukunft umfasst der so genannte "Wohlstandskompass" vier Indikatoren (Schaubild 2).

Schaubild 2:  Wohlstandskompass der Grünen

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Quelle:   Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Kommissionsdrucksache 17(26)89 vom 28.01.2013, S. 4

Schaubild 3:  Lebenszufriedenheit in Deutschland (von 04/1990 bis 05/2012)

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Quelle:   Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Kommissionsdrucksache 17(26)89 vom 28.01.2013, S. 7

Abweichend vom Wohlstandsquartett wird der gesellschaftliche Wohlstand allerdings nicht durch die gesellschaftliche Ausgrenzungsquote[5] sondern durch die individuelle Lebenszufriedenheit gemessen. Zwar spiegelt diese die Befindlichkeit der Menschen wider. Auch ist sie gut dokumentiert und international vergleichbar. Da sie sich im Zeitablauf jedoch nur wenig verändert (Schaubild 3), ist sie als Wohlstandsindikator nur bedingt geeignet. Denn aus Wohlstandsindikatoren sollten politische Handlungsempfehlungen abgeleitet werden können. Wenn ein Indikator wie die Lebenszufriedenheit kaum oder nur mit großer zeitlicher Verzögerung auf Veränderungen reagiert, kann die Politik weder erkennen, ob und wo Handlungsbedarf besteht, noch ob die von ihr ergriffenen Maßnahmen dazu beitragen, ein erkanntes Problem zu lösen.

Das Trio der Lebensqualität der Linken

Aus Gründen der medialen Aufmerksamkeit und politischen Wirkung soll Wohlstand nach Vorstellung der Linken künftig lediglich durch drei Indikatoren gemessen werden (Schaubild 4).

Schaubild 4:  Trio der Lebensqualität der Linken

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Quelle:   Bericht der Fraktion Die Linke, Kommissionsdrucksache 17(26)88 vom 24.01.2013, S. 6

Im so genannten Trio der Lebensqualität wird der gesellschaftliche Wohlstand durch die "Reich-Arm-Verteilung" ausgedrückt. Sie gibt das Vermögen des reichsten Prozents der Bevölkerung im Verhältnis zur ärmeren Bevölkerungshälfte wieder. Allerdings sind Daten über die Vermögensverteilung - soweit sie auf subjektiven Angaben beruhen - nur bedingt belastbar und mit großer zeitlicher Verzögerung verfügbar. Zudem enthält das Trio der Lebensqualität mit der Begrenzung der Wohlstandsmessung auf das Bruttogehalt, die Reich-Arm-Verteilung und den ökologischen Fußabdruck keine Information über die subjektive Befindlichkeit der Bevölkerung.

Das Wohlstandsquintett des Denkwerks Zukunft

Das Wohlstandsquintett[6] des Denkwerks Zukunft zielt darauf ab, den Wohlstand einer Gesellschaft wirklichkeitsnäher als das BIP zur erfassen, indem letzterem vier weitere Wohlstandsindikatoren zur Seite gestellt werden (Schaubild 5).

Schaubild 5:  Das Wohlstandsquintett

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Quelle:   Denkwerk Zukunft (2011)

Der gesellschaftliche Wohlstand wird hier durch die so genannte gesellschaftliche Ausgrenzungsquote gemessen. Sie beruht auf einer repräsentativen, europaweit durchgeführten Befragung und gibt den Bevölkerungsteil an, der sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt. Für die gesellschaftliche Ausgrenzungsquote als Maßstab für gesellschaftlichen Wohlstand spricht, dass Menschen, die nur schwach in die Gesellschaft eingebunden sind, eine signifikant niedrigere Lebenszufriedenheit haben. Außerdem ist die gesellschaftliche Ausgrenzungsquote ein Gradmesser für das Risiko sozialer Konflikte. Schließlich ist sie multidimensional, d.h. der Grund für die Ausgeschlossenheit kann sowohl auf materielle als auch auf immaterielle Faktoren wie fehlende zwischenmenschliche Beziehungen oder gesundheitliche Probleme zurückgeführt werden.

Schaubild 6:  Gesellschaftliche Ausgrenzungsquote in der EU 2012

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Quelle:   EUROFOUND (2012)

Damit lässt die gesellschaftliche Ausgrenzungsquote unter Umständen auch Rückschlüsse darüber zu, ob und gegebenenfalls inwieweit Einbußen im materiellen Bereich durch immaterielle Faktoren wie die Einbindung in den Arbeitsmarkt oder die Gesellschaft oder einen besseren Gesundheitszustand kompensiert werden. Für Deutschland könnte die im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich gesellschaftliche Ausgrenzungsquote in der Tat ein Indiz dafür sein, dass die wachsende Einkommensungleichheit durch die verbesserte Integration in den Arbeitsmarkt und/oder lokale Verwurzelung und regionale Verbundenheit aufgefangen wurde (Schaubilder 6 und 7).

Schaubild 7:  Entwicklung der gesellschaftlichen Ausgrenzungsquote in
ausgewählten EU-Ländern 2001-2011*

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* Die Angaben für 2010 sind nicht enthalten, da 2010 die Antwortkategorien von den vorangegangenen und nachfolgenden Jahren abweichen und deshalb nur eingeschränkt vergleichbar sind.

Quelle:   Eurobarometer (2010), EUROFOUND (2012)

Unter der Bedingung, dass nur ein Indikator zur Messung gesellschaftlichen Wohlstands ausgewählt wird, erfüllt die gesellschaftliche Ausgrenzungsquote des Denkwerks Zukunft eine Reihe wichtiger Kriterien. Angesichts der Fülle von Vorschlägen zur Messung gesellschaftlichen Wohlstands sollte jedoch eine breite öffentliche Debatte darüber geführt werden, welcher gesellschaftliche Indikator hierfür am besten geeignet ist.

(Stand: 26. März 2013, Stefanie Wahl)

 


[1] Der Index misst die Zahl der beobachteten Feldvogelarten in Deutschland bzw. Europa.

[2] Vgl. Freiberger Stiftung (2010), Zufriedenheit trotz sinkenden materiellen Wohlstands, Amerang S. 20 f.

[3] http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_country.asp

[4] http://www.denkwerkzukunft.de/downloads/WQ-Memo-2010.pdf

[5] http://www.denkwerkzukunft.de/index.php/aktivitaeten/index/Wohlstandsquintett

[6] http://www.denkwerkzukunft.de/downloads/Wohlstandsquintett_2012.pdf