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Szenario 2020 - 10 Thesen zu den zukünftigen Ernährungsweisen und Esskulturen

von Mag. Hanni Rützler* / März 2010

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Den ersten Schock der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir verdaut. An den Folgen werden wir noch jahrelang zu "beißen" haben. Hohe Arbeitslosenraten, stagnierende oder sinkende Realeinkommen, steigende Lebensmittelpreise und wachsende - zudem durch den Klimawandel dynamisierte - globale Verteilungskämpfe werden auch in den westlichen Industrieländern nachhaltige Veränderungen der Ernährungsweisen und Esskulturen nach sich ziehen. Erzwungenermaßen, über weite Strecken aber auch von einem bewussten, epistemischen Wertewandel begleitet.

 

These 1: Wir werden wieder mehr und besser kochen

Erstens weil wir uns in Krisenzeiten erfahrungsgemäß mehr in private Räume zurückziehen und zweitens, weil wir trotz Krise und mitunter knapperen Budgets nicht auf den Genuss verzichten wollen. Im Gegenteil: Wir achten mehr darauf, was uns wirklich wichtig ist und was uns gut tut. Statt auf Quantität legen viele Menschen auch beim Essen nun mehr Wert auf Qualität. Das lässt sich zu Hause - etwas Know How vorausgesetzt - mit geringerem finanziellen Aufwand verwirklichen als durch den Besuch eines guten Restaurants. Die Verwendung von hochwertigen Convenience-Produkten und das Kochen werden dabei im Alltag mehr und mehr zu Synonymen werden und unsere Esskultur dadurch auf einem professionelleren, gesünderen und kulinarisch höheren Niveau landen.

 

These 2: Die gemeinsame Mahlzeit gewinnt wieder an Bedeutung

Noch gibt es keine empirischen Anzeichen dafür, dass tatsächlich wieder signifikant mehr gekocht wird, aber das Bedürfnis danach steigt. Auch jenes, das gemeinsame Essen wieder mehr zu zelebrieren, zumindest bei Einladungen zum Abendessen nach Hause oder am Wochenende. Das gilt, wie neue Studien zeigen (1), vor allem für jüngere Menschen, die dem Essen mit Freunden wieder einen hohen Stellenwert einräumen. Nicht nur aus finanziellen Überlegungen. Selbst kochen befriedigt vor allem die Bedürfnisse nach Sinnlichkeit, nach Kreativität, nach Lebendigkeit, Verantwortlichkeit und Gemeinschaft. Für jemanden oder sogar gemeinsam zu kochen verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl, es vermittelt uns eine Ahnung davon, wie ein zumindest in Momenten geglücktes Leben zu führen wäre.

 

These 3: Qualitätsbewusstsein und ethische Verantwortung steigen

Gesellschaftliche Veränderungen sind immer in Form einer Mikropolitik des Andersdenkens und Andersseins zu denken, in der alltäglichen Abweichung auch bei vermeintlich kleinen und "unpolitischen" Dingen der Lebenspraxis (2) wie dem täglichen Einkaufen, Kochen und Essen. Sie vollziehen sich nicht schlagartig und lassen sich auch an Verbrauchsstatistiken nicht auf den ersten Blick ausmachen. Dabei zeigen aktuelle Studien in den USA (3) wie in Europa (4), dass Verbraucher auch im Zuge der Weltwirtschaftskrise bei ihrem Konsumverhalten nicht allein, vielfach nicht einmal primär den Preis im Fokus haben. In so genannten "krisenresistenten Haushalten" (laut jüngster GfK-Erhebung sind dies in Deutschland 46%, in Österreich 53%) stehen Qualität, Marke (Premium), Gesundheit, Bio, Fair Trade und Nachhaltigkeit nach wie vor, seit Beginn der Krise mitunter sogar verstärkt im Fokus der Konsumentscheidungen (5).

 

These 4: Die Armut wächst und generiert neue Modell der Umverteilung

Natürlich ist der Preis für jene Menschen, die in so genannten "krisengefährdeten Haushalten" leben (Deutschland 21%, Österreich 14%) zentral. Die steigende Anzahl solcher Haushalte spiegelt sich auch im Boom so genannter "Sozialmärkte" (z.B. http://wien.hilfswerk.at/b11527m79) und Umverteilungsinitiativen wie z.B. der "Wiener Tafel" (www.wienertafel.at) wider, die Lebensmittel aus der Überproduktion gezielt an sozial Bedürftige stark preisreduziert verkaufen bzw. gratis abgeben.

 

These 5: Bewusste Ernährung wird zu einer weltanschaulichen Positionierung

Bewusste Ernährung geht mehr und mehr über die Ausrichtung auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung hinaus. Sie wird zu einer weltanschaulichen Positionierung, die auch die Herkunft und Produktionsmethoden von Lebensmitteln einbezieht: "Verbraucher, die sich ausgewogen und gesund ernähren, legen gleichzeitig weit überdurchschnittlich darauf Wert, dass die Produkte aus der Region kommen, dass sich das Obst- und Gemüseangebot an der natürlichen Saison dieser Produkte orientiert, auch auf artgerechte Tierhaltung, naturbelassene Produkte und die Vermeidung von gentechnologischen Verfahren." (6)

 

These 6: „Region" wird noch deutlicher zum dominanten Food-Trend

Die wichtigsten Kriterien für die Neudefinition von Qualität sind "frisch", "regional" und "handgemacht", d.h. nicht-industriell erzeugt. Regionale Produkte entsprechen nicht nur dem Bedürfnis nach Authentizität und Transparenz, sie können darüber hinaus weitere Extraboni ausspielen: Ihr Vertrieb gilt als umweltschonender und unterstützt die regionale Wertschöpfung, die angesichts der globalen Krise auch nationalökonomisch bedeutsam ist. Die Versorgung mit regionalen Produkten wird zunehmen, weil neue Farming-Techniken eine umweltverträgliche Intensivierung selbst in urbanen Räumen ermöglichen, weil die Transportpreise steigen werden und die heutigen Schwellenländer einen massiv erhöhten Lebensmitteleigenbedarf haben.

 

These 7: Third Places gewinnen an Bedeutung

Einkaufen und Essen, Arbeiten und Freizeit werden viel intensiver vernetzt sein. Konsumentenfreundliche Synergien, die heute noch durch arbeitsrechtliche und protektionistische Verordnungen verhindert werden, prägen den Einkaufs- und Essalltag. Die Grenzen zwischen Restaurants und LM-Handel, Betriebskantinen und Catering werden mehr und mehr verschwimmen. Unser Leben wird sich vermehrt an sogenannten "Third places" abspielen, in multiplen Räumen, in denen sich Arbeit und Bildung mit sozialen Aktivitäten wie Kinderbetreuung, After Business-Talks, Kochen und Essen müheloser verbinden lassen.

 

These 8: Koch- und Ess-Know How finden Eingang in den Bildungskanon

Überspitzt formuliert: Wer nicht kocht, weiß kaum was er isst. Wer noch nie eine Torte selbst gebacken hat, kann sich die Menge Zucker und Fett, die die meisten Rezepturen enthalten, schwer vorstellen. Gesunde Ernährung braucht also einen kritischen, geschulten Gaumen. Und der führt in erster Linie übers tätige Kochen. In einer modernen Gesellschaft, in der Frauen berufstätig sind und zu recht nicht mehr nur in der Rolle der Mutter und Versorgerin von Kind und Mann aufgehen, müssen andere Formen der Know How-Vermittlung  gefunden werden. In einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft müssen auch jene, die mit unserer Ernährung ihr Geld verdienen, ihren Part dazu leisten: Die Gastronomie, der Lebensmittelhandel und die Nahrungsmittelindustrie. Tatsächlich gerät da einiges in Bewegung. Starköche wie Jamie Oliver oder Sarah Wiener engagieren sich für gesunde und kulinarisch ansprechende Schulernährung und lustvolle Kochkurse für Kinder und Jugendliche, Nestle-Deutschland plant ein Ernährungsstudio für Lehrer und Schüler, der österreichische Bio-Marktführer "Ja!Natürlich" entwickelt gerade ein Konzept für eine sinnlich-spielerische Kochschule etc. etc.

 

These 9: Der Weg zur gesunden Ernährung führt über den Genuss

Der Schlüssel zu einer gesunden Ernährung ist der Genuss. Unser Gaumen ist, wenn es ums Essen geht, mächtiger als unser Kopf. Will man Kinder und Jugendliche zu einer gesunden Ernährung motivieren, gilt es in erster Linie ihr Interesse am Essen, am vielfältigen Geschmack der Lebensmittel, am Kochen und am Genuss zu wecken. Nur wer selbst kocht, "kann die größtmögliche Freiheit und Wirksamkeit der eigenen Kaufkraft aktivieren. Wer sich sein Essen selbst zubereitet und dies nicht anderen überlässt, sichert sich daher jene Machtposition", die bestimmt, "was und wie gut man isst." (7)

 

These 10: Genuss ist der neue, demokratische Luxus

Genuss ist die neue Form des Luxus, bei dem es nicht mehr um Status und Prestige geht, der sich - ganz im Gegenteil - vielfach an einfachen, besonders authentischen und an Produkten und Services  festmacht, die sich durch eine Besonderheit auszeichnen: eine erzählbare Geschichte (wie bei den Büffelmilchprodukten des österreichischen Quereinsteigers Robert Paget), die sinnlich wahrnehmbare Herkunft (wie bei der eigenen Landwirtschaft des New Yorker Kult-Restaurants "Blue Hill") oder ein spezielles Ambiente (wie die Familienatmosphäre im Wiener Restaurant "the dining room") etc.

 

* Hanni Rützler ist Ernährungswissenschaftlerin und Gesundheitspsychologin. Sie ist Gründerin und Leiterin von futurefoodstudio in Wien (www.futurefoodstudio.at) und Mitwirkende im Denkkreis "Lebens-Mittel" des Denkwerks Zukunft.

 

 

(1) Nestlé Deutschland AG, So is(s)t Deutschland. Ein Spiegel der Gesellschaft. Deutscher Fachverlag, Frankfurt am Main (2009)

(2) Lemke H. Kritische Theorie der Esskultur, in: Därmann I., Jamme Ch. (Hrsg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. Wilhelm Fink-Verlag, München (2007)

(3) Hartmann Group Report, Sustainability: The Rise of Consumer Responsibility (2009) und Hartmann Group Report, Future Buy. The new shopper value paradigm (2009)

(4) RollAMA, Gewinner und Verlierer in der Rezession, GfK Austria (2009)

(5) GfK Haushaltspanel ConsumerScan (2009)

(6) Nestlé Deutschland AG, So is(s)t Deutschland. Ein Spiegel der Gesellschaft. Deutscher Fachverlag, Frankfurt am Main (2009)

(7) Lemke H. ebd. S.17.

 

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Szenario 2020