Zeit zu handeln


Übersicht Referenten und Diskutanten

Harald Welzer

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Harald Welzer (geb. 1958) ist Soziologe und Sozialpsychologe. Er ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und leitet dort u.a. Projekte des neuen Forschungsschwerpunkts KlimaKultur. Außerdem ist er Professor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke und Affiliated Member of Faculty am MARIAL-Center der Emory University in Atlanta, USA.

Statement zum Diskussionsthema

Tschu En-lai, Premierminister im kommunistischen China, wurde einst von einem Journalisten gefragt, was er von der französischen Revolution halte. Er zögerte kurz und sagte dann: „Es ist noch zu früh, dazu etwas zu sagen."

Das ist mehr als eine Anekdote, denn wir wissen heute tatsächlich noch nicht, wie lange das Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell des Westens, das im 18. Jahrhun­dert seinen Anfang hatte und sich im 19. und 20. über einen sich immer weiter tota­lisierenden Prozess der Industrialisierung über die Welt breitete, funktionieren wird. Im Vergleich zu zweitausend Jahren chinesischer Dynastien, sechshundert Jahren römischer Herrschaft, tausend Jahre Byzanz und neunhundert Jahren Osterinsel hat es das westliche Produzieren und Denken gerade mal auf zweihundert Jahre Erfolgsgeschichte gebracht - und die Globalisierung des westlichen Wirtschafts­modells bedeutet zugleich sein Ende: denn es braucht jede Menge Treibstoff, die seine Zivilisationsmaschine antreibt, und damit immer ein Außen, aus dem es diesen Treibstoff in Form von Rohmaterialien aller Art beziehen kann. Aber eine globalisierte Welt, die diesem Wirtschaftsmodell folgt, hat kein Außen. Das zieht zwei Konsequenzen nach sich: die Konkurrenz um die verbleibenden Ressourcen wächst und damit das Potential für Konflikte und Kriege, und das Prinzip der grenzenlosen Ressourcenausbeutung verlagert sich vom Raum in die Zeit - man konsumiert die Zukunft der nachfolgenden Generationen.

Es kommt also darauf an, die Diskussion um Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit in eine historische Dimension einzurücken: Wie lange kann ein solcher Typ von Gesellschaft überhaupt erfolgreich sein? Wie verhängnisvoll ist die Erfahrung von Erfolg für die Entwicklung zukunftsfähiger Perspektiven? Was sind heute die Gegenkonzepte zu den einstmals treibenden Kategorien Fortschritt, Wohlstand, Wachstum? Und: Ist es noch zu früh, etwas zum absehbaren Niedergang des westlichen Erfolgsmodells zu sagen?

Ausgewählte Veröffentlichungen

Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. S. Fischer, Frankfurt a. M. (mit Claus Leggewie) (2009)

Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. S. Fischer, Frankfurt a. M. (2008)

Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Klett-Cotta, Stuttgart (mit Hans J. Markowitsch) (2006)

Ausgewählte Zitate

"Wir werden schnell Einigkeit darüber herstellen können, dass wir kein fertiges Bild davon haben, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen wird. Das Problem ist, dass wir erst eine Form von engagierter Gesellschaft schaffen müssen. Die Mitglieder der Gesellschaft müssen sich als Teil eines politischen Gemeinwesens verstehen und nicht als Politikkonsumenten, als Konsumenten von Anne-Will-Politik und sonstiger Pseudopolitik. Das heißt aber, diese reaktivierte Gesellschaft muss sich auf einen Weg des Lernens begeben. Denn wir sind ja in vielerlei Hinsicht mit Problemen konfrontiert, für die es keine vorformatierten Lösungen gibt. Wir können uns also als eine lernende Gesellschaft neu erfinden. Wir müssen eine Gesellschaft von Selberdenkern werden. Das ist eine faszinierende Herausforderung."
auf der ersten Konferenz des Denkwerks Zukunft am 30. November 2010 in Berlin

"Und wenn man schon dabei ist, nach Wegen jenseits falscher Alternativen und scheinbarer Sachzwänge zu suchen, dann könnte man das ganze Problem des Klimawandels als ein kulturelles definieren und bekäme sogleich eine andere Sicht auf die Dinge. Kann eine Kultur langfristig erfolgreich sein, wenn sie auf der systematischen Aufzehrung von Ressourcen gründet? Kann sie überleben, wenn sie den systematischen Ausschluss von Folgegenerationen in Kauf nimmt?"
in: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, S. 263

"Wenn man Wert darauf legt, dass die eigenen Kinder und Enkelkinder eine Überlebenschance haben [...], dann wird man davon abgehen müssen, das ganze Leben nach dem Prinzip des Wachstums zu organisieren."
Interview im Deutschland-Radio, 27.12.2008