Erfüllter leben


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Kleine Welt ganz groß

Viele alte Dörfer Italiens, oft bildschön, wurden Opfer der Landflucht: Die Menschen zogen fort, auf der Suche nach einem einträglichen Leben und neuen Möglichkeiten. Solche Möglichkeiten in den Dörfern selbst zu schaffen und diese in Verbindung mit nachhaltigem Tourismus wieder aufleben zu lassen war die Idee von Professor Giancarlo dall‘ Ara, einem italienweit erfolgreichen Tourismusberater und Hotelfachmann. Auslöser dafür war das schwere Erdbeben 1976 im Friaul und die Frage, wie entvölkerten Ortschaften neues Leben eingehaucht werden könnte.  

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Dall‘ Ara ersann daraufhin den Albergo Diffuso, auf Deutsch „verstreutes Hotel“: In alten Häusern oder Wohnungen eines Orts, meist im historischen Zentrum, werden komfortable Apartments oder Zimmer für Gäste eingerichtet. Nichts wird neu gebaut, nur renoviert. Die alte Bausubstanz dient als Grundlage für einen Tourismus, der einerseits den Gästen ein Eintauchen in die Atmosphäre eines Orts und das Leben seiner Menschen ermöglicht, andererseits für die Einheimischen neue Verdienstmöglichkeiten schafft. Apartments und Zimmer liegen in einem Umkreis von wenigen hundert Metern, mit einer Rezeption für alle; Frühstück gibt es in einem nahegelegenen Café, einem der Häuser - oder es wird aufs Zimmer gebracht. Dall‘ Ara legte für die Alberghi Diffusi folgende Kriterien fest: Die nötige touristische Infrastruktur mit Restaurants, Bars, Apotheke usw. muss in nächster Nähe verfügbar sein, genauso wie die öffentlichen Plätze. Die Ortschaft muss typisch für die Region und ihre Kultur sein und ein authentisches Ambiente aufweisen. Alle Apartments und Zimmer einer Ortschaft müssen von einem einzigen Management geführt werden.     

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1982 entstand in Comeglians im Friaul der erste Albergo Diffuso. Natürlich war nicht jeder in Frage kommende Ort gleich Feuer und Flamme für dall‘ Aras Idee - manche Hausbesitzer hatten Vorbehalte gegenüber einem solchen Projekt, wollten sich auf keine finanziellen Risiken einlassen oder zogen es vor, ihre Wohnungen auf traditionelle Weise zu vermieten. Und es dauerte auch eine ganze Weile, bis Sardinien 1998 als erste Region Italiens eine gesetzliche Regelung für den Betrieb der Alberghi Diffusi festlegte. Inzwischen gibt es rund 80 in ganz Italien. Sie gelten dort heute als eines der erfolgreichsten Tourismuskonzepte der letzten Jahrzehnte - so erfolgreich, dass es mittlerweile auch Orte in Kroatien und Slowenien kopieren, weitere Länder sollen folgen.

Der Aufenthalt in einem Albergo Diffuso macht den Besucher also gleichsam zum Einwohner seines Urlaubsorts - er lebt (mit allen Hotelservices) Tür an Tür mit den Einheimischen, kann sich Restaurants, Bars und Sehenswürdigkeiten von ihnen empfehlen und zeigen lassen; er kann an ihrem Tagesablauf oder am Ortsleben teilhaben. Nicht wenige Alberghi Diffusi widmen sich übrigens bestimmten Themen - Literatur, Musik oder der lokalen Architektur wie den berühmten Trulli (Rundhäusern) in Apulien oder den Wohnhöhlen von Matera in der Basilicata. 

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Wiederverwendung historischer Bausubstanz, neue Marktchancen für lokales Handwerk und regionale Produkte, Rettung von Kunst- und Kulturschätzen, Erhalt von Traditionen und Bräuchen, dazu für den Besucher die Möglichkeit, einen Ort und sein Leben authentisch aus erster Hand zu entdecken und zwischenmenschliche Kontakte aufzubauen - die Alberghi Diffusi ermöglichen eine Symbiose, in der Einheimische und Urlauber sich in vielerlei Hinsicht gegenseitig unterstützen: eine Blaupause für nachhaltigen Tourismus, die Schule machen könnte.

(Fotos: Alberghi Diffusi)

www.alberghidiffusi.it

(Nikolaus Wiesner, Oktober 2015)