Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Das andere eine Prozent

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Liverpool, das bedeutet Rock‘n‘Roll, Weltkulturerbe-Hafen, Wirtschaftskrisen, Fußball, Armut, Kulturstadt. Außer den Beatles haben hier so unterschiedliche Menschen wie Sir Simon Rattle, Wayne Rooney oder Peter Shaffer das Licht der Welt erblickt. Trotz eines leichten wirtschaftlichen Aufschwungs gehört die Stadt am Mersey noch immer zu den zehn ärmsten Großbritanniens: Eine Metropole der Gegensätze und Spannungen, die jedoch für viel kreatives Potenzial und ungewöhnliche Ideen sorgen.

In dieser Atmosphäre reicht schon einmal eine Flasche Wein unter Freunden als Zündkerze für ein bemerkenswertes Projekt. So geschehen 2011, als Steve Pilgrim, Songwriter und Schlagzeuger bei Englands Popmusik-Heiligem Paul Weller, während einer Hochzeit im Freundeskreis laut darüber nachdenkt, wie möglichst direkt und für alle Geber nachprüfbar den Ärmsten auf der Welt geholfen werden könne; Matt Johnson, lange Jahre erfolgreich im Aufbau von Firmen und neuen Geschäftsmodellen, u.a. in Zusammenarbeit mit vielen NGOs in Entwicklungsländern, meint nur: „Schreib‘ mir eine Seite dazu und wir machen es“. Ein dritter Freund schlägt vor, statt herkömmlichen Spenden solle man die Leute fragen, ob sie einen kleinen Teil ihres Einkommens spenden würden.

Die Idee: Aus regelmäßigen Spenden, z.B. ein Prozent eines Monats- oder Jahreseinkommens, soll ein Netzwerk aufgebaut werden, das kontinuierlich und nachprüfbar Hilfe leisten kann, Hilfe für konkrete Projekte der effektivsten internationalen Hilfsorganisationen, die Pilgrim, Johnson und ihre Mitstreiter in Großbritannien ausfindig machen können. „Be One Percent“ (BOP) erblickt das Licht der Welt, und binnen weniger Monate wird aus der Idee eine eingetragene Wohltätigkeitsorganisation. Als weiteren wichtigen Mitstreiter gewinnen Pilgrim und Johnson Bob Doherty, Professor und Fakultätsleiter an der renommierten York Management School, ehemaliger Marketingchef bei Fairtrade und Vorsitzender des Liverpooler Fairtrade Steering Committee. Bis heute gibt es bei BOP nur eine fest angestellte Halbtagskraft, alle anderen arbeiten ehrenamtlich. 

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Auch Paul Weller unterstützt Be One Percent seit den Anfangstagen und gibt im Sommer 2014 in Liverpool ein Fundraising-Konzert. Derzeit gehen jeden Monat vier- bis fünfstellige Pfundbeträge der Spender an Hilfsorganisationen wie Self-Help Africa, die Against Malaria Foundation, Mary‘s Meals oder Concern Universal. Ausgewählt werden die Partnerorganisationen nach der wirksamsten Nutzung der Spendengelder. Diejenigen, mit denen BOP zusammenarbeitet, haben sehr niedrige Betriebskosten - über 90 Prozent  der Spenden werden für die Hilfsprojekte verwendet - und keine großen Ausgaben für Marketing oder teure Fundraising-Events. BOP bemüht sich insbesondere auch um die Förderung spezifischer Selbsthilfeprojekte.

Schlüsselbereiche im BOP-Engagement sind Wasserversorgung und Sanitäranlagen, Landwirtschaft und nachhaltige Ernährungsprogramme, Medizin, Schulen und Ausbildung sowie Investitionen ins Gemeinwesen und Start-Up-Hilfen. Be One Percent selbst deckt seine Betriebskosten über Zuwendungen von Firmen und Privatleuten - somit gehen die Spenden zu 100 Prozent an die Hilfsorganisationen. Doch einfach ist es trotzdem nicht: „Wir leben in einer sehr saturierten Gesellschaft, in der man ständig dazu angehalten wird, etwas zu kaufen oder etwas zu geben, was es für Wohltätigkeitsorganisationen nicht leichter macht“, sagt Steve Pilgrim. „Und auch das zunehmende wirtschaftliche Ungleichgewicht hier bei uns macht es schwer. Denn vielen Leuten geht es schlechter als noch vor fünf Jahren. Das führt unter anderem natürlich dazu, dass weniger gespendet wird. Damit müssen wir uns auch auseinandersetzen.“ Auf einer Reise nach Afrika war Steve „tief beeindruckt, wie viel Freude Menschen empfinden können, die nichts haben. Und wie ungesund unsere Gesellschaft wirkt, mit ihrem materiellen Überfluss und den psychologischen Übeln, die damit einhergehen.“

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Die Kollektivspenden erlauben es BOP - im Gegensatz zur herkömmlichen Einzelspende - die Unterstützung an bestimmte Projekte zu koppeln und von den Hilfsorganisationen genaues Feedback darüber zu bekommen, was die Hilfsgelder vor Ort bewirken. Eine ausführliche eMail und die Website informieren die BOP-Mitglieder jeden Monat über das, was mit ihren Geldern erreicht wurde sowie die eingegangenen Spenden. Ganz egal ob Aids-Aufklärung, Kreditkooperativen für Existenzgründungen, Malarianetze, Schulmahlzeiten, Wassersysteme, nachhaltige Lebensmittelproduktion oder Soforthilfe bei Umweltkatastrophen in Afrika, Asien oder Haiti - bei Be One Percent ist man auf jede geleistete Hilfe stolz. Dass die Organsation  noch vergleichsweise klein ist, macht Steve Pilgrim nichts aus: „Wären wir zu schnell gewachsen, hätten wir das nicht managen können.“ Der Großteil der BOP-Spenden kommt aus England, doch es gibt auch bereits Spender aus dem Ausland. In Zukunft möchte man sich Schritt für Schritt vergrößern: mit einem Project Manager, einem Büro in London und neuen Kooperationen mit Firmen und Privatleuten nicht nur in Großbritannien. Mittelfristig möchte BOP auch in anderen europäischen Ländern an den Start gehen. Die Betriebskosten sollen auch künftig aus Zuwendungen gedeckt werden, so dass alle Spendengelder weiterhin komplett der Hilfe zugutekommen.

Gespendet werden kann entweder regelmäßig ein Prozent des Monatseinkommens oder einmal pro Jahr ein Prozent des Jahreseinkommens. Zur Nachahmung empfohlen ist die Unterstützung, die Großbritannien Spendern gewährt: Über das Gift-Aid-Programm erhöht der Staat die an eine Wohltätigkeitsorganisation gemachte Spende um circa 25 Prozent des gespendeten Betrags. „Veränderung bewirkt man nicht, indem man das Alte bekämpft, sondern indem man das Neue erschafft“, schließt Steve Pilgrim. Ein Motto nicht nur für Liverpool. Wer Fragen hat, kann sich direkt an Be One Percent wenden.

www.beonepercent.org  

(Nikolaus Wiesner, Mai 2015)