Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Die Ilias der Alpen

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Die Türme, Zacken und Spitzen der Dolomiten, ihre Hochflächen, Almen und Täler sind ein atemberaubender Schatz an Formen und Farben. Es ist kein Wunder, dass die menschliche Vorstellungskraft die Natur dieses Gebirges in vielen Geschichten gespiegelt hat - seit sehr langer Zeit, denn sesshaft wurden Menschen in den Dolomiten schon in der Bronzezeit. Mit der römischen Herrschaft wurde die rätische Bevölkerung der Dolomitentäler latinisiert. Es entstand jene Sprache, die man heute als „rätoromanisch“ kennt: Früher im ganzen Alpenraum verbreitet gibt es sie aktuell noch in Graubünden, in den Dolomiten und im Friaul. Das Ladinische der Dolomiten, so weiß die Forschung inzwischen, hat einen größeren Wortschatz als die meisten anderen europäischen Sprachen. Das Erzählen von Geschichten war stets entscheidender Teil der ladinischen Kultur, und manche dieser Geschichten wurden mündlich z.T. über Jahrtausende überliefert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Journalist und Anthropologe Karl Felix Wolff diese Überlieferungen gesammelt: Seine Nacherzählungen sind nicht frei von Heldenepik und Fehlinterpretationen, doch sein Engagement hat einen Kulturschatz von größtem Wert gerettet. 

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Herausragend ist dabei jene Geschichte, die die Ladiner als ihren „Nationalepos“ bezeichnen: die Sage vom Reich der Fanes. Das Fanes-Gebirge zwischen dem Gadertal (Val Badia) im Westen und Cortina d‘ Ampezzo im Osten ist eine großartige Gebirgswildnis mit über 3000 Meter hohen Gipfeln, mehr als 1000 Meter hohen Felswänden, weiten Almen und kargen Hochflächen. Hier und in der weiteren Umgebung siedelt die Sage die Geschichte von Aufstieg und Fall eines Bergvolks an, die in ihrer Tiefgründigkeit dem Homerischen Epos nicht nachsteht: Sie erzählt von ursprünglichsten menschlichen Fragen, vom Leben mit und gegen die Natur; sie erzählt von individuellen und gesellschaftlichen Umbrüchen, von Großmut und Tragödien, von Einklang und Widerspruch. Und sie erzählt von der Sehnsucht nach Erlösung. Trotz des Interesses von Wissenschaftlern und Künstlern aus verschiedenen Ländern ist die Sage recht unbekannt geblieben.

Das Volk der Fanes stammt von einem Prinzen und einem Naturwesen ab, sein Totem ist das Murmeltier, mit den Murmeltieren steht es im Bund. Die Fanes steigen zu einem geachteten Stamm auf. Die letzte Königin der Fanes heiratet einen Fremden, dem sie das Bündnis mit den Murmeltieren verschweigt; ohne ihr Wissen geht er einen Bund mit den Geiern ein. Dolasilla, die Tochter, wird gegen ihren Willen vom eroberungssüchtigen Vater in die Rolle einer Kriegerin gezwungen. Mit ihr an der Spitze erkämpfen die Fanes zahlreiche Siege. Ein Prinz aus der Gegnerschaft der Fanes verliebt sich in Dolasilla und schützt sie im Kampf mit einem ebenfalls verzauberten Schild. Als er Dolasilla ehelichen möchte, verweigert der Fanes-König seiner Tochter die Einwilligung zur Ehe - im Wissen, dass ihre Kraft als Kriegerin mit der Heirat enden wird. Er verbannt den Prinzen. Ohne den Schutz des Zauberschildes kommt Dolasilla bei der nächsten Schlacht ums Leben. Die Fanes verlieren die Schlacht - nicht zuletzt, da der König mit den Feinden paktiert hat, um deren Hilfe bei der Erschließung eines unterirdischen Goldreiches zu bekommen. Zur Strafe wird er in Stein verwandelt. Trotz der Hilfe der Murmeltiere gelingt es den Fanes nicht, dauerhaften Frieden mit den Gegnern zu schließen: Der letzte Prinz, vom Stamm der Geier, verweigert sich einer moderaten Lösung, die alles entscheidende Schlacht geht verloren. Einige Kinder, die alte Königin und Dolasillas Zwillingsschwester überleben. Sie folgen den Murmeltieren in ihre unterirdischen Höhlen, wo sie in der Hoffnung auf Erlösung auf die „Verheißene Zeit“ warten. 

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Auch wenn die Sage und ihre vielschichtige Metaphorik hier nur angerissen werden können - wer genauer hinsieht, entdeckt die „Botschaften“ der Geschichte: Ein Leben im Einklang mit der Natur zeitigt Wohlstand; das Wissen um den Kreislauf von Werden und Vergehen lässt individuelle und gesellschaftliche Belange ihren richtigen Lauf nehmen; Selbstverantwortung und Verantwortung für andere gehen Hand in Hand; „unbewusstes“ oder egozentrisches Handeln führt zum symbolischen oder tatsächlichen „Tod“; die Suche nach persönlicher Bestimmung ist von großer Bedeutung, muss aber unter Einhaltung bewussten Seins und universeller (Natur)Gesetze geschehen. Zauber darf nur unter lebensfördernden Gesetzmäßigkeiten angewendet werden, sonst wird er verhängnisvolle Hybris: Schein statt Sein. Ein ganz besonderer, sehr moderner Aspekt der Fanes-Sage ist das vollständige Fehlen von Göttern: Es gibt Naturwesen und Zauber, aber keine Götter. Der Mensch ist Schöpfer seines Schicksals; Naturwesen und Zauber treten entsprechend der menschlichen Entscheidungen als wohlwollend oder bösartig auf - oder verweisen auf ein universelles Gleichgewicht, das eingehalten werden muss. Botschaften, die erstaunlich aktuell sind - oder eben zeitlos.

Die Sage zeigt viele Züge dessen, was die Forschung einen „Ursprungsmythos“ nennt: Eine Geschichte, die den Menschen eines Kulturkreises Welt und Universum und die eigene Rolle darin erklärt - wie auch der Gilgamesch-Mythos oder die Ilias. Viele Sinnbilder dieser Mythen funktionieren seit Jahrtausenden und können somit guten Gewissens als nachhaltig bezeichnet werden. Mythen sind Träger profunden Wissens, was Forscher wie C.G. Jung, Mircea Eliade oder Joseph Campbell belegt haben. Von solchem Wissen erzählen auch die Dolomiten.

www.ilregnodeifanes.it (ital. und engl.)

Karl Felix Wolff: Dolomitensagen, Tyrolia-Verlag

Nicola dal Falco / Ulrike Kindl: Ey de Net e Dolasilla, Istitut Ladin Micura de Rü (ital.)

Joseph Campbell: Die Kraft der Mythen, Artemis-Verlag

 

(Nikolaus Wiesner, Juli 2015)