Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Die ganze Welt ist Bühne

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August Everding war da, Franz Josef Strauß, Hermann Prey, Friedrich Karl Flick oder auch Franz Xaver Kroetz - die Liste derer, die das Flintsbacher Volkstheater besuch(t)en, ist lang und verbindet unterschiedliche Charaktere. Noch länger ist die Geschichte dieses Volkstheaters, des verbrieft zweitältesten in Deutschland - schon 1675 wurde hier Theater gespielt, wahrscheinlich sogar früher. Dokumentiert älter sind nur die Ritterspiele im benachbarten Kiefersfelden.

Warum aber spielen die Menschen heute in einer oberbayerischen 2800-Seelen-Gemeinde so passioniert Theater? Noch dazu umsonst bzw. ehrenamtlich, organisiert in einem seit 1875 existierenden Theaterverein? So passioniert, dass ein Bundesverdienstkreuz nach Flintsbach gegangen ist?

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Theaterspielen ist hier Tradition. Flintsbach ist ein Ort, „in dem die Leute das Theater im Blut haben“, wie Spielleiter Peter Astner sagt. Ein eigenes Theaterhaus gibt es schon seit 1823. Für Erneuerung und Instandhaltung des „Theaterstadels“, wie ihn die Flintsbacher nennen, werden fast alle Einnahmen aus dem Kartenverkauf verwendet. Der Rest geht in Aufwendungen für Bühne, Technik und Kostüme. „Ausschlaggebend für den Erfolg“, sagt Vorstand Toni Obermair, „ist auch der Zusammenhalt. Es ist ja nicht wenig Aufwand, 25 Vorstellungen und 30 Proben im Jahr zu machen und die eigene Freizeit dafür zu opfern“. Obermair ist wie viele andere in Flintsbach selbständig und hätte allen Grund, mit seiner Zeit zu geizen. Doch im Theater arbeiten alle gern: „Viele haben wirklich genug zu tun, die ganze Woche über. Aber sie sagen, dass die Arbeit im Theater eine Erholung ist.“ 

Peter Astner arbeitet beim Staatlichen Bauamt in Rosenheim. Seit bald 20 Jahren ist er Spielleiter des Flintsbacher Volkstheaters. Auf ihm lastet die Verantwortung, spielbare Stücke zu finden und sie dem Verein zur Auswahl vorzulegen. Die Stückeauswahl macht einen guten Teil des Flintsbacher Erfolgs aus: „Wir legen Wert auf anspruchsvolle Stücke, ganz gleich, ob lustig, traurig oder provozierend. Natürlich haben wir während der Hochzeit des Tourismus nach dem Krieg auch Stücke gespielt, die die Leute sehen wollten. Gott sei Dank brauchen wir das jetzt nicht mehr“, lacht Astner. „Seit zwei, drei Spielleiter-Generationen sind wir darauf aus, anspruchsvolles Theater zu spielen - weil wir es möchten und die Zuschauer es sehen wollen.“ Egal, ob Ödön von Horvath, Nestroy, ein unbekannter, unbequemer Autor oder auch ein fürs Theater umgeschriebenes Drehbuch: „Wir versuchen, etwas zu finden, das uns unverwechselbar und auch für den Nachwuchs interessant macht.“ An theaterbegeistertem Nachwuchs mangelt es in Flintsbach übrigens nicht. Zwar ist es aufwendig, die Termine für Jung und Alt unter einen Hut zu bekommen, im Theater aber arbeiten dann alle Generationen eng zusammen: In Zeiten von Smartphone und Xbox durchaus bemerkenswert.

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Das Spiel auf der Bühne hat für die Mitglieder des Flintsbacher Volkstheaters auch einen ganz konkreten Nutzen: „Ich bekomme den Kopf frei und denke nicht mehr an die Arbeit, auch wenn die Rolle anstrengend ist“, sagt Toni Obermair, und Peter Astner pflichtet bei: „Wenn auf der Bühne gearbeitet und gespielt wird, auch bei den Proben, ist alles andere weg.“ Toni Obermair ist sich sicher, dass in Flintsbach gern noch mehr Menschen Theaterspielen würden. Genauso könnten es natürlich auch ein Instrument oder Sport sein, „die für Ausgleich und Wohlbefinden sorgen. Es ist aber einfach wichtig, dass der Mensch aufgeräumt ist bei etwas, das ihm gut tut.“ 

Für den Zuschauer sieht Peter Astner auch den Theaterbesuch „wie einen Kurzurlaub. Über die Hälfte unseres Publikums lässt sich ins Erleben des Stücks fallen“, egal ob es Komödie oder Tragödie ist: „Das Wichtigste beim Theaterspielen ist der Spiegel, der den Menschen vorgehalten wird. Wenn sich die Menschen darauf einlassen, ist das sehr schön.“ Sich aufeinander einzulassen ist aber auch in anderer Hinsicht entscheidend für Peter Astner: „Es ist in unserer Gesellschaft immer mehr so, dass jeder versucht, sein persönliches Anliegen durchzubringen, in der Freizeit wie im Beruf. Wenn ich auf der Bühne bin und es passiert etwas, jemand weiß zum Beispiel sein Stichwort nicht mehr, dann muss zusammen geholfen werden. Und es ist spannend zu sehen, wie improvisiert wird, damit alles wieder gerade gerückt werden kann, der Zuschauer davon aber nichts mitbekommt. Wer hier beim Theater mitmacht, hat bei nur kleinem Aufwand - Zeit - etwas davon, man hat keine Fahrtwege, braucht keine große Technik, die einem beim Spaß unterstützt. Man muss nur zusammenarbeiten, und das macht Spaß.“ Für Toni Obermair sollte „Zusammenhalt in der Gesellschaft generell einen größeren Stellenwert haben.“

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Das Flintsbacher Volkstheater ist ein Ort, an dem in unterschiedlicher Hinsicht nachhaltig gearbeitet wird: An einer langen und sich gleichzeitig erneuernden Tradition, am menschlichen Miteinander, am Bewusstsein für das eigene Leben. Nachhaltig gearbeitet wird übrigens auch im Rahmen des Bühnenbaus - nichts kommt weg, was noch genutzt, übermalt oder anderweitig eingesetzt werden kann. Und noch nie sind für ein Stück „mehr als 1000 Euro für Material ausgegeben worden“, wie Bühnenbauer Martin Obermair stolz feststellt. 

Auch wenn es nicht neu ist: Das Bewusstsein für das eigene Denken und Tun lässt sich im Theater schärfen. Aus eigenem Engagement heraus spielen die Flintsbacher „Theaterer“, wie sie sich auf gut Bayerisch nennen, seit mindestens 340 Jahren. Jedes Jahr gibt es ein neues Stück, gespielt wird von Mitte Juni bis Mitte August. Bequem macht es sich die Laientruppe bis heute nicht - ein in Flintsbach gespieltes Stück kann auch einmal dazu führen, dass neben herzlichem Lachen ein Zuschauer das Theater verlässt, weil das Stück nicht nach seinem Geschmack ist. Noch nie aber hat jemand das Theater verlassen, weil es dem Spiel an Qualität gemangelt hätte.

Und was können die Menschen nach Meinung der Flintsbacher Theatermacher für eine lebenswerte Zukunft tun? „Die schönen Dinge sehen, die wir haben, die Mitmenschen anschauen. Zufrieden sein. Nicht ständig fordern. Sondern schätzen, was da ist“, meint Peter Astner. Etwas, das diejenigen, die an der Staatsstraße zwischen der österreichischen Grenze und Rosenheim derzeit oft zu sehen sind, wirklich zu schätzen wissen: „Da kommen mir Menschen aus Afrika mit Plastiktüten entgegen. Und in so einem Moment muss ich mir klar machen, wo diese Menschen herkommen, und unter welchen Umständen. Und dass ich wirklich zufrieden sein sollte.“

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www.volkstheater-flintsbach.de

(Nikolaus Wiesner, Juni 2015)