Die Vergangenheit für die Zukunft nutzen
Es fühlt sich an, als wäre man in eine Zeitmaschine gestiegen und um 1900 wieder herausgekommen: Ein elsässisches Dorf mit Fachwerkhäusern, Werkstätten, Flussläufen, Mühle, mittelalterlichem Stadtturm, Friedhof, Bahnhof, Feldern, kleinem See. Ein paar fröhliche Schweine werden zusammengetrieben, in den Werkstätten und auf den Bauernhöfen arbeiten Menschen, angezogen wie à l‘ epoque. Schmied, Wagner, Töpfer, Schnapsbrenner und viele andere sorgen für eine wirklichkeitsgetreue Darstellung elsässischer Realität anno dazumal.
Diese kleine Welt bei Ungersheim, ein paar Kilometer nordwestlich von Mulhouse, ist aber alles andere als ein elsässisches Disneyland: Alles wirkt echt, selbst der Dorfpolizist nimmt seine Aufgabe ernst, vermittelt aber gleichzeitig viel Spaß. Getragen wird das Ecomusée von gut 30 Angestellten, besonders aber auch von den 150 bénévoles, freiwilligen Mitarbeitern, die in Zünften organisiert sind und den Besuchern das einstige Leben im Elsass näher bringen - jeder mit seiner individuellen Aufgabe, die er/sie nach persönlichem Geschmack und Interessen wählen oder dazu im museumseigenen Centre de Formation eine Ausbildung machen kann, z.B. als Gärtner, Mechaniker, Imker, Landwirt oder Naturbeobachter. Das Centre stellt sein Know-how darüber hinaus auch der Öffentlichkeit oder Firmen zur Verfügung und bemüht sich, Menschen in sozialen Schwierigkeiten berufliche Perspektiven zu eröffnen.
Die Geschichte des Ecomusée reicht zurück bis in die 1970er Jahre: Eine Gruppe junger Geschichts- und Archäologiestudenten aus der Region möchte zum Erhalt der elsässischen Architektur beitragen, die eine immer kleinere Rolle spielt. 1973 entsteht der Verein Maisons Paysannes d’Alsace (Elsässer Bauernhäuser), der die Restaurierung bzw. den Wiederaufbau alter Häuser zum Ziel hat. Manche Gebäude können aber nicht an ihrem Originalstandort bleiben, und so entsteht die Idee, sie anderswo wieder aufzubauen.
1980 gibt die Gemeinde Ungersheim dem Verein auf einem alten Industriegelände die Möglichkeit, ein Museum einzurichten. Mit Unterstützung des Conseil Général du Haut-Rhin (Generalrat Oberrhein) werden 20 alte repräsentative Häuser auf dem Gelände wieder aufgebaut. 1984 wird das Écomusée d’Alsace eröffnet. Besucher aus dem Elsass spenden unzählige zeitgenössische Möbel, Fotografien oder Kleidungsstücke aus der Zeit zwischen 1850 und 1950. Der Name des Ungersheimer Museums spricht sich bald in ganz Frankreich und schließlich auch im Ausland herum.
Heute wird das Ecomusée von der Region Elsass, dem Conseil Général du Haut-Rhin und den elsässischen Tourismusverbänden finanziell unterstützt. Der Alltagsbetrieb selbst wird beinahe komplett über die Eintrittsgelder bewerkstelligt. Die Association de l‘ Ecomusée d‘ Alsace als Trägerverein möchte mit ihrem Museumskonzept auch über das Museum hinaus wirken. Mittlerweile beherbergt das Museum 70 Häuser aus dem gesamten Elsass. Vom Bauernhof über das Wirtshaus bis zur kleinen Kapelle ist alles vorhanden. Interessant ist dabei, dass das Dorf nach keinem festen Plan entstanden ist - schließlich war nicht vorhersehbar, wann wo welches Haus abgebrochen, abgetragen oder für das Museum zur Verfügung gestellt würde: Die gesamte Anlage ist und bleibt ein work in progress. Vielleicht wirkt sie gerade auch deshalb so authentisch - nichts erscheint „gewollt“.
Das gilt auch für die natürliche Umgebung des Ecomusée: Sie besteht aus mehreren Hektar Landwirtschaftsflächen mit Feldern, Obstbäumen und Flusslandschaft sowie mehr oder weniger sich selbst überlassenem Biotopen, die von ehrenamtlichen Naturbeobachtern „überwacht“ werden. Stolz ist man hier auf eine unglaubliche Artenvielfalt und Biodiversität: Weit über 3400 Spezies weist die Flora und Fauna auf dem gut 35 Hektar großen Areal des Ecomusée auf. Einige davon sehr selten. Generell dienen die Naturflächen des Museums dazu, natürliche wie landwirtschaftliche Prozesse und Zusammenhänge besser zu verstehen - und, wo sinnvoll oder nötig, für die Zukunft nutzbar zu machen, nicht nur im Museum.
Ein ebenso spannendes wie charmantes Beispiel für eine lebenswerte regionale Zukunft, ist die maison alsacienne de demain. Seit 2014 steht auf dem Gelände ein Modellhaus, das die traditionelle Fachwerkbauweise mit modernsten Nachhaltigkeits- und Energiesparkonzepten verbindet - das Haus soll mehr Energie produzieren, als es verbraucht, mit niedrigstem CO2-Abdruck, Baumaterialien aus der Region, Regenwassernutzung und Wasserrecycling, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Wenn das Museum an den Wochenenden im August auch abends geöffnet ist, verwandelt es sich zwischen den vielfarbig angestrahlten Gebäuden, Ausstellungen und Veranstaltungen in eine große, fast ein wenig surrealistische Freilichtbühne. Wer mag, hat dann auch am Abend noch Gelegenheit, nicht nur das Elsass, Traditionen und Handwerk, sondern auch sich selbst neu zu entdecken - und sich daran zu erinnern, wie vielschichtig das Leben sein kann, wenn man nicht in Schubladen denkt und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Ressourcen begreift, die gleichzeitig genutzt werden können.
(Nikolaus Wiesner, August 2016)