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Fast 900 Jahre Geschichte, verbunden mit hochmoderner Wirtschaft und Kultur: Kloster Neustift in Südtirol zeigt, wie zukunftsfähige Ganzheitlichkeit im Denken, Leben und Handeln aussehen könnte.

Eingebettet in ein Amphitheater aus Weinbergen und umrahmt von Bergen liegt am Eisack Kloster Neustift, unweit von Südtirols alter Bischofsstadt Brixen: Das größte Kloster Alttirols, gegründet 1142, berühmt für seine Kunstschätze, seine Geschichte, seinen preisgekrönten Wein. Aber auch weithin bekannt für sein Bildungshaus, sein renommiertes Schülerheim und seine für Südtirol wie bisweilen darüber hinaus wegweisenden Initiativen in Wissenschaft und Bildung. Über Jahrhunderte war Neustift eine der wichtigsten Pilgerstationen für die Reise nach Rom, am Schnittpunkt der Wege über den Brenner und durch das Pustertal. Und an der Schnittstelle zwischen deutscher und mediterraner Kultur.

Klöster, so könnte man vermuten, konnten und mussten immer schon ein wenig anders denken als der Rest der mittelalterlichen Welt. Horte des Wissens und der Bildung, nicht unbedingt frei von Problemen - aber Orte, an denen die wirtschaftlichen und materiellen Voraussetzungen geschaffen wurden, um geistlich und spirituell unabhängig arbeiten zu können. Klöster waren wie Dörfer organisiert. Neustift zum Beispiel besaß neben den üblichen Höfen, Äckern und Ländereien ein eigenes Silber- und Eisenbergwerk, eine eigene Mühle am Eisack und eigene Quellen. Damit so ein Kloster funktionierte, musste gleichsam ganzheitlich und nachhaltig gedacht werden. Und das gilt bis heute.

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In Neustift ist man stolz darauf, in Bezug auf Energie vollkommen autonom zu sein: „Seit 1992 ist das Kloster CO2-neutral, wir heizen mit einer Biomasseheizung, die ein Pilotprojekt für ganz Südtirol war," sagt Urban von Klebelsberg, der Landwirtschaft in Florenz studierte und seit bald 30 Jahren Stiftsverwalter ist: „Unser Biomasseheizwerk war sozusagen die Mutter aller Biomasseheizwerke des Landes, das mittlerweile zu 75% über Biomasse beheizt wird." Dazu besaß Neustift über viele Jahrzehnte ein eigenes E-Werk, das nach Auslaufen der Konzession heute den Brixner Stadtwerken und der angrenzenden Gemeinde Vahrn gehört, an dem das Kloster aber immer noch mitbeteiligt ist und durch das es stromtechnisch autonom bleibt. Entstanden war das eigene E-Werk, nachdem aus Klosterland in einem benachbarten Tal eine Trinkwasserleitung gelegt wurde: Der ehemalige Abt Chrysostomus Giner war mit der Technik der Trinkwasser-E-Gewinnungswerke vertraut, und das Kraftwerk des Klosters, erbaut 1987, wurde das erste Trinkwasserkraftwerk in Südtirol.

Solche Vorreiterfunktionen hat das Kloster in den letzten Jahrzehnten oft übernommen: Als Abt Giner erkannte, dass die zunehmende Fixierung auf den Tourismus als Einnahmequelle Südtirols soziales Gefüge in Mitleidenschaft zog, gründete er 1972 in Neustift das so genannte „Tourismuszentrum", um den entstandenen Problemen entgegenzuwirken. In den achtziger Jahren kam ein Ökozentrum hinzu, dann der erste Computerschulungsraum des Landes. Bis man beschloss, aus diesen Aktivitäten unter dem Dach des neuen „Bildungshauses Kloster Neustift verschiedene Fachbereiche zu schaffen", wie Bildungshaus-Direktor und Landschaftsökologe Andreas Wild es beschreibt: Aus dem Ökozentrum zum Beispiel wurde der Bereich Natur und Nachhaltigkeit. Und Neustift wurde zu einer der Speerspitzen für Ganzheitlichkeit, Bildung und Bewusstsein der Menschen in Südtirol.

„Man braucht den Speer, wenn man Ziele treffen will, danach ist es aber auch gut, den Speer wieder in die Halterung zu stellen, um auf neue Ziele zu warten", sagt Stiftsverwalter von Klebelsberg. Konkret heißt das, dass man in Neustift hinsichtlich Bildung und Vorreiterfunktion genau beobachtet, dass man mit der Zeit und ihren Notwendigkeiten geht: Computerkurse sind nicht mehr nötig, also gibt es keine mehr, der Umweltschutz in Südtirol hat sich entwickelt und läuft größtenteils von selbst. Dafür legt man derzeit größten Wert auf die Bereiche Gesundheit, Wirtschaft und Kunst: Vom Hobbykurs über ein Zertifikat als Natur- und Wanderführer bis zu Masterkursen in Zusammenarbeit mit den Universitäten Bozen, Innsbruck oder Salzburg wird dabei eine weit gefächerte Palette angeboten, auf der Themen wie financial balance, Sommelierkurse, Passivhausplanung, Shaolin Kung-Fu, Kunden-, Umwelt- und Kulturmanagement, Naturheilkunde oder corporate social responsibility wie selbstverständlich nebeneinander stehen.

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„Mit Ideen sind wir oft schneller als manche größeren Apparate", sagt Andreas Wild -  Ideen, die gern im informellen Gespräch, zwischen Tür und Angel oder beim Mittagessen geboren werden. Und auf unterschiedlichste Weise unter Prälat Prof. Untergaßmairs Motto „Kontinuität und Aktualität" umgesetzt werden; beide Begriffe sind für den Abt auch Synonyme für Nachhaltigkeit: Kontinuität verstanden als fortlaufende Arbeit durch die gesamte Geschichte Neustifts, Aktualität als ständige Verbesserung und Anpassung an die Notwendigkeiten von Zeiten und Generationen. Wirtschaftlich geht es Neustift dank florierendem Obstbau, Forstwirtschaft, Weinbau und 60.000 Stiftsbesuchern im Jahr, das Bildungshaus nicht mitgezählt, sehr gut: „Wir haben aber nur Erfolg in der Wirtschaft, wenn wir auch an die Menschen denken", sagt Abt Georg Untergaßmair, „auch das bedeutet Nachhaltigkeit."  Nachhaltigkeit, fügt er an, die ein Teil des Schöpfungsgedankens ist.

Für das Neustifter Bildungshaus wurde mittlerweile ein Beirat geschaffen, in dem alle wichtigen Landesverbände vertreten sind, um die Zusammenarbeit zwischen Land, Kloster, Politik und Menschen zu verbessern. Natürlich läuft dabei nicht immer alles glatt, „auch bei uns hakelt's und schnackelt's zwischendrin ganz schön", wie Urban von Klebelsberg bemerkt. Eine verbesserte Energieeinsparung und Abfallbewirtschaftung, neue Lehrmethoden, Kreativräume oder eine biofaire Lebensmittelversorgung sind Themen, mit denen sich die Mitarbeiter des Klosters intensiv beschäftigen, „wir müssen uns schon auch selber auf die Finger klopfen", mahnt Bildungshausdirektor Andreas Wild.  

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Beim Leben in und mit dem Kloster geht es den Neustiftern insbesondere auch um zwischenmenschliche Begegnungen, Austausch und Empirie. Andreas Wild hat klare Vorstellungen davon: „Erleben und Erproben muss möglich sein, und Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit sollten nicht mehr nur Bildungsinhalt, sondern eine Selbstverständlichkeit sein. Ich glaube, das Bewusstsein dafür ist bei den Menschen schon da, aber man muss es noch mehr fördern." Jährlich im Mai finden mittlerweile zum fünften Mal im Kloster und in Brixen die „Think More About - Tage der Nachhaltigkeit" statt: Namhafte internationale Referenten bieten Unternehmern, Führungskräften und allen Interessierten die Gelegenheit, die konkreten Umsetzungsmöglichkeiten nachhaltigen Denkens, Handelns und Wirtschaftens u.a. in Blue Economy, Sharing Economy, Unternehmensführung, Regionalität und Bildung kennen- und umsetzen zu lernen. Veranstaltet werden die Nachhaltigkeitstage vom Kloster, dem Brixner Terra-Institute und der Universität Bozen. Übrigens schätzen auch große deutsche Institutionen wie das Max-Planck-Institut oder die TU München Kloster Neustift schon seit Jahren als besonderen Tagungsort, dessen Atmosphäre ein Zur-Ruhe-Kommen und klare Gedanken fördert. Nicht nur, weil in den Klostermauern das Handy oft keinen Empfang hat.

Durchaus selbstbewusst sagen sie in Neustift, dass man in Bezug auf Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit von Klöstern lernen und ein Klosterbetrieb eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft sein kann. Vor allem, wenn durch Jahrhunderte funktionierende Gesetze von Natur und Mensch durch kritische Auseinandersetzung und Evaluation ins Licht unserer Zeit gerückt und Herausforderungen angenommen werden. „Das macht bescheiden und ein bissel demütig. Und es macht Spaß, ich trainiere mich. Es gibt kein Patentrezept, man muss immer offen bleiben", sagt Stiftsverwalter Urban von Klebelsberg. Alle in Neustift betonen die „Ehrlichkeit und Authentizität", die man für sich selber genauso brauche wie man sie den Besuchern des Klosters nahelegen möchte: Zum 875jährigen Jubiläum des Klosters 2017 will man dementsprechend auch keine museale Ausstellung präsentieren, sondern das Kloster mit allem, was es zu bieten hat, zu einem begehbaren und im wahrsten Sinn des Wortes ganzheitlichen Erlebnis machen.

Websites: www.kloster-neustift.it, www.thinkmoreabout.com

(Nikolaus Wiesner, März 2015)