Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Ich bin viele

Ein Gespräch mit Matthias Lilienthal, einer der profiliertesten und einflussreichsten Theatermacher Deutschlands.

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©Christian Friedländer vergrößern

Warum spielt man Theater?
Bei Schauspielerinnen und Schauspielern ist das häufig wie ein manischer Zwang, von dem man nicht weiß, wie er zustande kommt. Gleichzeitig ist ein Theater auch wie ein Labor, in dem man urbane Lebensformen ausprobiert, das spielt bei uns eine große Rolle: Wie sieht eine Gesellschaft mit Flüchtlingen aus, wie beeinflusst das Internet die Kunst? Es geht uns auch darum, eine künstlerische Vision von Wirklichkeit auf einer Bühne zu behaupten.  

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©Sima Dehgani vergrößern

Ist das Leben ein Theaterstück? Was für Rollen spielen wir heute?
Frank Castorf hat einmal gesagt, dass wir alle unsere Haltung in Bruchteilen von Sekunden wechseln. Ich kann der Besitzer einer Eigentumswohnung sein und mich mit einem Mieter rumstreiten, und kurz danach bin ich selbst Mieter einer Wohnung und formuliere die entgegengesetzten Interessen. Wenn ich an einem Tag ein Interview mit der Süddeutschen mache, dann in einer Aufsichtsratssitzung bin, dann mit den Mitarbeitern der Maske rede und dann mit einem japanischen Regisseur, dann bin ich vier verschiedene Personen, und in diesen vier Begegnungen gibt es überhaupt keine Kontinuität. Ich, das ist eine Vielzahl von Verschiedenheiten. Wir sollten nicht in fixen Vorstellungen hängen, sondern uns auf unterschiedlichste Weise reflektieren. Ich halte es beim „Ich“ mit der Zwiebelmetapher aus Ibsens Peer Gynt: Ich schäle Schicht für Schicht, und in der Mitte ist nichts. 

Was können Kunst und Kultur in Zeiten des Umbruchs dazu beitragen, dass wir uns aus alten Vorstellungen lösen und neuen Raum geben?
Die neuen Medien und Bilder spielen eine große Rolle. Das Selbstbild und die Selbstdarstellung von jüngeren Menschen werden von den social media stark beeinflusst, in einer anderen Generation ist das völlig unwichtig. Wir haben eine sich dramatisch schnell ändernde Realität. Und wenn wir sagen, der Mensch ist eine Zwiebel, heißt das ja nicht, dass in den einzelnen Schichten nichts vorhanden ist. In dieser sich beschleunigenden Welt sind wir immer wieder gezwungen, uns neu zu denken. Unsere Identität ist viel fragmentarisierter als noch vor 20 Jahren: Für die Japaner zum Beispiel ist Identität ein Patchwork. 

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©Thomas Aurin vergrößern

Welche Rolle spielen Kunst und Theater in der heutigen Gesellschaft?
Noch vor gut 30 Jahren hatten Theater- und Filmemacher eine Meinungsführerschaft in der Gesellschaft, und diese Meinungsführerschaft ist vollständig verloren gegangen. Heute hat jeder 30jährige Investmentbanker in Frankfurt mehr Einfluss auf die Realität in Deutschland als der einflussreichste Intellektuelle. Das ist ein extrem fragwürdiger Prozess. Und mich würde ein Diskurs interessieren, in dem Intellektuelle wieder mehr versuchen, Einfluss geltend zu machen: Die post-68er-Zeit hat ja auch einen Anspruch formuliert, wie man eine Gesellschaft verändern möchte. Es gibt zwar Momente von Kritik aus der künstlerischen Ecke, aber ich glaube nicht, dass Künstler und Intellektuelle im Augenblick eine klare Vision haben, wohin sich diese Gesellschaft entwickeln sollte. Ich glaube auch, dass an der Vorteilen der Globalisierung zu wenige Menschen teilhaben. Es wäre meines Erachtens extrem wichtig, die Globalisierungsgewinne mehr Menschen in dieser Republik und auf der ganzen Welt zugänglich zu machen. 

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©Christian Friedländer vergrößern

Wie sieht Ihr Bild von einem erfolgreichen zeitgenössischen Theater aus?
Mir macht es Spaß, mich mit technischen Innovationen auseinanderzusetzen, mir macht es Spaß, mich Robin-Hood-mäßig für Leute einzusetzen, die Benachteiligung erfahren. Mir macht es Spaß, künstlerisch interessante Ansätze zu vermitteln. Mir macht es Spaß, sozusagen an der teuersten Straße der Stadt ein wenig herum zu polemisieren.  

Was sind Ihrer Meinung nach die drängendsten Probleme unserer Zeit?
Das größte Problem unserer Zeit ist die vollständig ungerechte Verteilung des Reichtums in der Welt.

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©Thomas Aurin vergrößern

Sollte ein Künstler politisch und / oder gesellschaftlich engagiert sein?
Ein Künstler soll gar nichts. Das muss jeder für sich entscheiden. Jede Generation definiert sich vollständig neu und hat das absolute Recht dazu. In meiner Generation gibt es theoretisch noch die Möglichkeit unsere Wünsche einigermaßen zu realisieren. Ob das für die nächste Generation noch zutrifft, bezweifle ich.

Was heißt für Sie „Bewusstsein“ bzw. „sich bewusst sein“?
Bewusstsein heißt für mich, eine Beobachtungsdistanz zu sich selber zu finden. Nicht nur Klischees über die eigene Existenz zu reproduzieren, sondern auch manchmal nachzusehen, was aus einem selber geworden ist. 

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Was brauchen wir vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse, um eine lebenswerte Zukunft zu gestalten?
Ich denke, es wäre wichtig, eine Klimakatastrophe zu verhindern und einen Ausstieg aus der Konsumkultur hinzubekommen. Dazu müssen wir uns neue ökonomische Modelle ausdenken. Deswegen finde ich z.B. auch die Diskussion ums Grundeinkommen interessant.

Ihre persönliche Utopie der Welt in 25 Jahren?
Ich habe keine. Ich wünsche meinem Sohn total viel Glück, und ich fürchte, dass er es auch brauchen wird. 

(Nikolaus Wiesner, Juni 2016)