Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Von den Bergen lernen

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Ganz tief hinein in die Berge zieht sich die Straße, die vom Isartal über den Sylvensteinspeicher durchs Rissbachtal hinein nach Tirol führt. Vorbei an Fluss-läufen, schroffen Kalkfelsen und sanften Almlandschaften dringt sie ins Herz eines der größten Gebirgsstöcke der Ostalpen, in die so genannte „Eng“. Die nur von Bayern aus zu erreichende Tiroler Enklave gilt als eine der schönsten Alpenlandschaften überhaupt. Kein Wunder, dass die Menschen an manchen Tagen in Scharen hierher strömen. 

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Das Besondere an diesen Bergen, sagt Hermann Sonntag, Geschäftsführer des Tiroler Alpenparks Karwendel, liegt „in den Wildflüssen, in unberührten Geländekammern, den zum Teil urwaldartigen Wäldern und einmaligen Landschaften wie dem Großen Ahornboden in der Eng  - das hat europaweite Bedeutung. Hinzu kommt, dass der Gebirgsstock im Winter fast unbewohnt ist.“ Mit seinen 727 Quadratkilometern ist der Alpenpark Karwendel auch der größte Naturpark Österreichs. Auf bayerischer Seite kommt das angrenzende Naturschutzgebiet Karwendel und Karwendelvorgebirge mit weiteren 190 Quadratkilometern dazu. So weit, so gut - trotzdem sieht sich das Gebirge zwischen Isar, Achensee, Mittenwald, Seefeld und Innsbruck vielen Herausforderungen ausgesetzt. Eine Million Besucher pro Jahr sind kein Pappenstiel, auch wenn sie sich auf das gesamte Karwendel verteilen.

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Zwar ist, so Sonntag, generell „ein Trend ‚Zurück zur Natur‘ zu beobachten“. Doch mit dem Bewusstsein für das, was die Natur ist und bietet, „sind wir noch nicht besonders viel weiter als vor 15 Jahren,“ wie Michael Schödl feststellt, auf bayerischer Seite Gebietsbetreuer des Karwendel: „Wir haben eine Gesellschaftsmentalität, in der sich jeder selbst sehr wichtig nimmt. Die Natur wird oft als Sportgerät gesehen und ‚konsumiert‘.“ Diese Mentalität ist auch etwas, das Hubert Billiani Sorgen macht. Er ist Betreuer des großherzoglich luxemburgischen Jagd- und Forstgebiets an der Grenze zwischen Bayern und Tirol: „Die Leute lassen sich oft nichts sagen, weder hinsichtlich des Naturschutzes noch hinsichtlich der Umgangsformen. Das Verständnis für Verbote ist nicht sehr groß - oft werden sie einfach ignoriert.“ Billiani, Schödl und Sonntag weisen in diesem Zusammenhang auf Mountainbiker hin, die auf Wandersteigen unterwegs sind, auf denen sie nichts zu suchen haben. Und auf Bergfreaks, die sich ohne Rücksicht auf Flora, Fauna oder Privatgrund querfeldein schlagen, auch in der Dämmerung oder gar nachts

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Das Karwendel ist allerdings auch eine Region, in der die Natur zur Bildung eines nachhaltigen Bewusstseins intensiv und durchdacht genutzt wird. Durch geführte Wanderungen, Touren mit Naturparkrangern, Mitarbeits-möglichkeiten für jedermann, ausgesuchte Schul- und Bildungsprogramme oder Vorträge auf Hütten sollen Touristen wie Einheimische die Natur - und sich selbst - neu entdecken: „Bei unseren geführten Touren sind wir nie abseits vom Weg unterwegs. Man sieht auch auf den festen Wegen sehr viel. Wir zeigen den Besuchern also nicht die „Geheimtipps“, sondern führen ihnen vor Augen, was es auf den bekannten Routen alles zu erleben gibt. Wir bekommen großartiges Feedback dazu,“ sagt Hermann Sonntag. „Und wir versuchen das Besondere am Karwendel herauszuarbeiten: den Kontrast zwischen schroffem Kalkgebirge und lieblichen Almen, den Almenreichtum, Tiere wie den Steinadler - oder eben einen Wildfluss. Hinsichtlich der Besucherlenkung bewerben wir ganz bewusst immer dieselben Stellen. Wir bewerben Highlights, bei denen für möglichst viele Leute etwas dabei ist - und versuchen für den, der die Einsamkeit sucht, die entsprechenden Ecken zu bewahren.“

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Eine ähnliche Philosophie verfolgt seit rund 10 Jahren auch die Wirtsfamilie des Alpengasthofs in der Eng. Früher kamen um die 20 Busse am Tag hierher, heute sind es vielleicht zwei. „Auch wenn man es nicht glauben mag - es ist nicht unser Ziel, die Busse wieder in die Eng zu bringen. Wir versuchen, den Fokus auf die Natur zu setzen“, sagt Chefin Carina Pfurtscheller-Kofler. Die Koflers bieten selbst geführte Wandertouren oder suchen zusammen mit den Gästen den Bärlauch, der dann abends auf den Tisch kommt. Das Haus hat zwei eigene Trinkwasserquellen und eine wassergetriebene Stromproduktion. Zusammen mit der Agrargemeinschaft Eng betreibt man eine biologische Kläranlage. Heizung und Warmwasserversorgung geschehen ebenfalls elektrisch. „Wo es geht, werden Öl und Diesel ausgespart, nur bei Engpässen müssen wir sie noch nutzen“, sagt Vater Max Kofler. Interessant ist auch, dass im Alpenpark Karwendel die überquellenden Mülleimer in der Eng abmontiert worden sind und die Besucher ihren Müll inzwischen selbst mit nach Hause nehmen.

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Oft kritisch gesehen werden im Karwendel übrigens auch manche Regelungen, die seitens der EU oder von anderen Institutionen am grünen Tisch getroffen werden - von überzogenen Lebensmittelverordnungen bis zur nachhaltigen Bewirtschaftung des Gebirges: „Die Natur weiß, was sie tut, und der Wald kann sich selber regenerieren“, sagt Hubert Billiani, der seit 30 Jahren den luxemburgischen Besitz im Karwendel nachhaltig bewirtschaftet. „Es gibt Dinge, die können Kommissionen nicht entscheiden - man muss vor Ort sein und die Verhältnisse kennen.“ 

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Im Karwendel sind sich Naturschützer und Hoteliers, sowie Hütten- und Landwirte anscheinend ziemlich einig, was zu tun ist, um eine der großartigsten Landschaften der Alpen zu erhalten: Mit der Natur leben, sie nicht tot regulieren und vor allem von ihr lernen, wie Hermann Sonntag und Michael Schödl betonen: „Gebirge sind uralte Lebensräume. Das bringt eine positive Demut und relativiert die eigene Geschichte. Wir sind jetzt da und bemühen uns, diesen Lebensraum zu erhalten und das Beste für ihn zu tun.“ Meiden, sagen alle, solle man das Karwendel nur am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit. Da sei der Andrang einfach nicht mehr schön. 

(Nikolaus Wiesner, Mai 2016)