Die Konfektion der Zukunft
Ein deutscher Unternehmensberater wartet am Amsterdamer Flughafen auf seinen Anschlussflug. Da er noch ein Hemd kaufen will, macht er sich auf die Suche. Etwas Langlebiges und Hochqualitatives soll es sein. In der Flughafenfiliale eines namhaften englischen Herstellers wird er fündig. Er zahlt einen stolzen Preis. Die Qualität ist in Ordnung. Doch als er das Hemd auspackt, steht da „Made in China". Dieser Moment wird vieles im Leben von Matthias Hebeler ändern.
Hebeler, Jahrgang 1968, stellte sich wie manche seiner Zunft schon vor jenem Tag in Schiphol manchmal die Frage, ob er es nicht einmal mit einem eigenen Produkt versuchen sollte. Als er dann jenes „Made in China" liest, überlegt er wieder, ob es nicht möglich wäre, ein hochqualitatives Herrenhemd zu einem vernünftigen Preis und auf nachhaltige Art in Europa herstellen zu lassen.
Schnell entdeckt er, dass es in Deutschland keine klassische Konfektion von Herrenhemden mehr gibt. Über ihren Tochterbetrieb in Gera lernt er eine österreichische Weberfirma kennen, durch sie wiederum einen Spinner in der Schweiz, dessen Tochterfirma mit US-Ökobaumwollbauern zusammenarbeitet. Eins gibt das andere, und fünf Jahre nach jenem Tag in Schiphol erblickt im Dezember 2009 das erste „Brainshirt" das Licht des Tages - ein klassisches, hochqualitatives Premium-Herrenhemd, 100% nachhaltig und ökofair in Europa hergestellt - und nicht einmal zum halben Preis dessen, was Matthias Hebeler am Amsterdamer Flughafen zahlte.
Inzwischen stellt „Brainshirt" nicht nur Premium-Herrenhemden her, sondern auch Jeans, Socken, Pullover und Unterwäsche, alle Rohstoffe GOTS- oder Blue-Sign-zertifiziert und aus kontrolliert biologischer Tierhaltung. Für seine Brainshirt-Produkte hat Hebeler drei Kriterien aufgestellt: Das Ursprungsmaterial muss ethisch und organisch einwandfrei, es muss in Zentraleuropa gefertigt und der CO2-Fußabdruck der Produktion soll so klein wie möglich sein. Letzteres bedeutet z.B. möglichst wenige Chemikalien zu verwenden und die Produktionspartner zum Einsatz regenerativer Energien zu bewegen. Für Textiler, die behaupten, in Europa könne nicht zu einem konkurrenzfähigen Preis produziert werden, hat Matthias Hebeler ein freundlich-ironisches Lächeln übrig.
Wer mit Matthias Hebeler spricht, lernt einen quicklebendigen, wissensdurstigen, schnell kombinierenden und assoziativ denkenden Unternehmer kennen, dem „die Nachhaltigkeit Spaß macht". Er hat, sagt er, in dem Bereich viele Quereinsteiger und faszinierende Menschen kennengelernt, „die einem schon mal das Weltbild ruinieren können". Im Guten, versteht sich. Nachhaltige Baumwolle ist ihm zum Beispiel auch deshalb wichtig, weil sie verhindert, dass globale Gentechnik- oder Chemiekonzerne ein Monopol erlangen. Rhetorisch fragt Hebeler: „Haben wir Menschen das Recht, lange existierende Organismen zu manipulieren?"
Langfristige Lieferanten- und Produzentenpartnerschaften sind eine weitere entscheidende Komponente von Hebelers unternehmerischem Nachhaltigkeitsbegriff. Das gilt auch für die Vertriebspartner - die werden zum Beispiel nicht gewechselt, nur weil ein größerer, der ursprünglich nicht mitmachen wollte, es sich später anders überlegt. „Kleidung ist Teil unserer Kultur", sagt Hebeler, und so müsse sie auch gesehen werden. Noch vor hundert Jahren, konstatiert er, „hat jeder Textilunternehmer Stoffe, Verarbeiter, Ingredienzen, Vertrieb und Lieferkette auswendig gekannt". Das Argument, dass das bei bis zu sechs Kollektionen pro Jahr nicht mehr möglich sei, lässt er nicht gelten: „Wenn ein kleines Unternehmen das überblicken kann, kann es ein großes schon lange."
Hebeler ist sich außerdem sicher, dass der Konsumentendruck in absehbarer Zeit so stark sein wird, dass Nachhaltigkeit und faire Lieferketten eine Voraussetzung unternehmerischen Erfolgs sind. Und die aktuelle Kleinteiligkeit der Produktion, fügt er hinzu, „erscheint ja nur viel billiger, weil externe Kosten nicht zutreffend erfasst werden". Auch die Betonung des Dienstleistungssektors in der aktuellen Wirtschaft der Industrieländer sieht Hebeler kritisch: „Es geht zu Lasten der Handarbeit und der Menschen, die etwas mit den Händen tun möchten. Und das", fügt er an, „geht von einem falschen Menschenbild aus".
Überhaupt hat Matthias Hebeler klare Vorstellungen von einer fairen und global funktionierenden Wirtschaftsweise. „Wenn wir schon globalisieren, dann dürfen Gewinne nicht privatisiert und Verluste sozialisiert werden." Besonders wichtig ist für Hebeler die faire, und existenzsichernde Bezahlung, egal ob in Europa oder anderswo: „Faire Entlohnung bedeutet für mich, dass die Menschen, die Brainshirt-Produkte herstellen, auch in der Lage sind, diese Produkte zu kaufen, und zwar mit dem Verdienst von ein paar Stunden." Eine Produktion in Afrika oder Asien könnte sich Hebeler nur für den dortigen Markt vorstellen, denn „noch immer wird unser Wohlstand auf dem Rücken derjenigen finanziert, die unseren Wohlstand schaffen". Hebelers Vision einer zukunftsfähigen Wirtschaft beinhaltet eine deutlich regionalere Produktion, eine Verkürzung der Lieferketten und höhere Löhne für die Menschen, damit diese sich wiederum bessere, nachhaltig und ohne Ausbeutung hergestellte Produkte leisten können. Das, konstatiert er, führe schließlich auch zu einer Erhöhung des Wohlstands. Gleichzeitig müsse darauf geachtet werden, dass Unternehmer keine überhöhte Margen verlangten, nur weil ein Produkt nachhaltig hergestellt wurde.
Ein weiterer Eckpfeiler von Hebelers Weltbild ist bewusstes Konsumieren: „Wir müssen lernen zu genießen, und Nachhaltigkeit sollte nicht mit einem Zeigefinger verbunden sein." Ein Hemd z.B. „muss gut aussehen, sich gut anfühlen und gute Pflegeeigenschaften haben, sonst kauft es keiner. Bewusster Genuss und bewusstes Konsumieren fördern das Wohlbefinden", meint Hebeler, „nur müssen wir das in vielen Bereichen wieder lernen. Egal ob beim Kochen oder bei Textilien, es sind die Zutaten, die das Produkt ausmachen. Und dabei bitte keine übertriebenen Zubereitungsmethoden anwenden."
Derzeit arbeitet Hebeler an zwei neuen Projekten. Ganz in der Nähe des Fuldaer Firmensitzes von Brainshirt, in der Rhön, leben Schafe, die aktuell wenig mehr zu tun haben, als Natur und Landschaft intakt zu halten. Matthias Hebeler wird vom Besitzer eines Biohofs Wolle in genau jener Menge bekommen, die er gut verarbeiten kann - zu Jacken, die keine Färbung benötigen, rotbraun, dunkelbraun und grau, je nach der Wollfarbe der Schafe, jede ein Unikat. Der Weg vom Hof über Weber, Spinnerei und Konfektion bis zur fertigen Jacke beträgt ganze 958 Kilometer, ausschließlich in Deutschland. Und die Jacke wird nicht teurer sein als vergleichbare konventionelle Ware.
Das zweite Projekt mit dem Namen „Exponent 4" zielt auf eine Vervierfachung der Lebensdauer von Baumwolle: Nachdem Hemden im Laufe der Zeit meist an Manschetten und Kragen in Mitleidenschaft gezogen werden, plant Hebeler, eine Hemden-Reihe von Brainshirt mit einem zweiten Paar Manschetten und einem zweiten Kragen zu verkaufen; wenn es soweit ist, lassen sich beide leicht von einem Schneider austauschen. Wenn das Hemd dann irgendwann tatsächlich abgetragen ist, soll es an Brainshirt zurückgegeben werden können, wofür der Kunde auch Geld bekommen soll, „denn der Stoff ist noch etwas wert". Was am Hemd noch gut nutzbar ist, soll gestückelt zu einem neuen Hemd verarbeitet oder durch Zerschreddern bis zur Faser für einzelne Teile der Brainshirt-Jeans verwendet werden.
„Wir müssen uns vom Glauben an unbegrenztes Wachstum verabschieden", sagt Matthias Hebeler. Dazu muss zunächst das eigene Handeln und Konsumieren bewusst gemacht werden. „Außerdem ist ein unbegrenztes Wachstum faktisch und naturwissenschaftlich nicht möglich". Das Denken „muss sich ändern und nicht an rein materiellen Aspekten orientieren." Im relativ wohlhabenden Skandinavien, „wo Geld nicht mehr als oberstes Regulativ gesehen wird, passiert das schon. Natürlich muss dazu ein gewisses Maß an Geld vorhanden sein." Auch ein zeitweiliges Schrumpfen der Wirtschaft sieht Hebeler gelassen, „denn es bietet innovativen Firmen die Chance auf Erfolg." Bei vielen Unternehmen steht ein Umbau in Richtung Fairness und Nachhaltigkeit an, weil es die Kunden so erwarten: „Was im Bereich Lebensmittel schon existiert, wird in den Bereichen Textilien und Wohnen sehr bald kommen." Matthias Hebelers Firma geht es gut, und in Fulda wird viel darüber nachgedacht, ökofaire Kleidung für möglichst viele Menschen zu produzieren: „Ökofaire Kleidung sollte kein Thema des Geldbeutels sein."
Schon für Adam Smith, den Ahnherrn des ökonomischen Liberalismus, gab es ohne Kultur keine Wirtschaft. Für Matthias Hebeler steht de Kunde im Mittelpunkt. „Man muss authentisch sein", schließt er und fügt zwei Sätze des österreichischen Topunternehmers und Biobauern Johannes Gutmann an: „Dienen kommt vor dem Verdienen und ein bisschen Demut schadet nie." Zwar fliegt Matthias Hebeler wegen seiner Überzeugungen inzwischen so wenig wie möglich. Dass Flughäfen aber zündende Ideen hervorbringen können, dafür ist seine Geschichte ein eindrucksvolles Beispiel.
Website: www.brainshirt.eu
(Nikolaus Wiesner, Februar 2015)