Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Der Stein der Weisen

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Gleichmäßig mäandert die junge Isar zwischen den weit geschwungenen Bergrücken des Karwendel-Vorgebirges. Die Sonne schimmert auf kleinen Wellen, die um Jahrmillionen alte Steine fließen. Der Wind weht leicht und lässt Schnee von den verschneiten Bäumen stauben. Außer dem amüsierten Gluckern des Wassers und der sanften Brise ist es völlig still. Manche sagen, dass niemand nach Kanada reisen müsse, wenn er so etwas in Deutschland habe.

Das Tal der jungen Isar zwischen Krün und Vorderriss, an der Grenze Bayerns zu Tirol, ist eine der letzten Wildflusslandschaften der Alpen und das Habitat seltener Tier- undPflanzenarten. Und das Zuhause von Vera und Josef Karner, die mit ihrer Firma Geo-Trip seit 2003 neue - und gleichzeitig sehr alte - Wege gegangen sind, um Natur und Menschen zusammenzubringen. 

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Das Ehepaar Karner, er ursprünglich Bergführer und Physiotherapeut, sie in kaufmännischen Berufen tätig, entschloss sich im Jahr 2000, etwas Neues zu versuchen. Eine komplizierte Wirtschaftslage erforderte eine berufliche Neuorientierung, und die Karners beschlossen, der eigenen Leidenschaft für die Natur der Region zu folgen. „Not macht erfinderisch", sagt Josef Karner, und so vertieften die Karners ihre alte Passion für Steine, Mineralien und Geologie mit zusätzlichen naturwissenschaftlichen Studien; Jäger- und Fischerprüfung hatten beide schon, ein Zertifikat als Natur- und Landschaftsführer folgte, Vera Karner arbeitete lange als ehrenamtliche Naturschutzwächterin. Auch Erfahrungen mit dem Summit Club des Deutschen Alpenvereins flossen in die Idee ein, Touristen wie Einheimische für die Natur der Region zu begeistern, genauso wie physiotherapeutisches Wissen, geologische und heimatkundliche Expertise - alles unter der Prämisse, Lebensqualität zu vermitteln. Schnell ergaben sich viele Gelegenheiten zur Zusammenarbeit mit Forstämtern, Naturschutz, Tourismus- oder Bauernverbänden. Zwischen 2005 und 2011 entwickelten die Karners geologische Lehrpfade in Krün, Wallgau, Mittenwald, im Tiroler Seefeld und am Herzogstand, dem Lieblingsberg Ludwigs II. Seit 2009 leiten sie exklusiv die Firmenführungen in der berühmten Partnachklamm bei Garmisch-Partenkirchen; ein weiterer Naturlehrpfad in der Klamm ist in Arbeit. 

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Doch das war noch nicht alles. 2005 eröffneten Vera und Josef Karner zuhause in Krün einen Laden, der mittlerweile das kleine „Naturmuseum Haus der Steine" beherbergt. Ausgestellt sind dort ausschließlich Fundstücke aus der Region: Fossilien, Mineralien und Natursteine, manche kunstvoll bearbeitet. Steine aus der Gegend sind für die Karners „eigentlich eine Tradition, so wie Tracht eine Tradition ist". Die Vielfalt der Steine, die allein im Flussbett der Isar liegen, ist beeindruckend: Wettersteinkalk, Hauptdolomit, alpiner Muschelkalk, dazu der so genannte Mittenwalder Marmor oder Ölschiefer. Die Farbpalette reicht von weiß über grau zu gelb, grün und rot.  

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Wer einen Nachmittag mit den Karners unterwegs ist, lernt Steine zu bestimmen und zu „lesen"; er entdeckt, wie Gebirge aus Ozeanen hervorgehen und blickt erstaunt auf den vor ihm in einem Stein liegenden Kreislauf von Werden und Vergehen: Ein kleiner Crashkurs in Erd- und Naturgeschichte und die Gelegenheit, die ganze Schönheit des scheinbar Alltäglichen zu sehen. Ganz abgesehen davon, dass Jahrmillionen alte Steine en passant manchen Maßstab wieder gerade rücken. Wer möchte, kann sich im Museum auch eine Einführung ins Schleifen und Polieren von Steinen geben lassen, sie bearbeiten lernen - und herstellen oder bestellen, was die Karners daraus machen: Designobjekte, Einrichtungsgegenstände, kleine Kunstwerke.

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Das Hauptanliegen von Vera und Josef Karner ist es, „ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was uns umgibt, was wir damit erleben und wie wir damit umgehen können", egal ob im kleinen Museum oder draußen in der Natur. Ein Schärfen der Sinne dafür, wo die Natur ihre sinnvollen Grenzen setzt, sagt Josef Karner, sei die Grundlage für einen gesunden Umgang nicht nur mit Pflanzen und Tieren, sondern auch mit Steinen. Wie wichtig die für ein funktionierendes Ökosystem sind, zeigt das Tal der jungen Isar anschaulich - nicht nur, weil viele Tier- und Pflanzenarten auf die sich ständig verändernden Kiesbänke und das Schwemmland angewiesen sind, sondern auch für den Grundwasserspiegel und damit die Grundwasserqualität: Der Kies schützt die Lehmschichten des Flussbetts, hält den Grundwasserspiegel stabil und das Wasser sauber.

Und so wurde Geo-Trip zu einer echten Erfolgsgeschichte: Die Karners haben über anderthalb Jahrzehnte ein geotouristisches, heimatkundliches und naturwissenschaftliches Angebot entwickelt, das alpenweit seinesgleichen sucht. In Österreich oder der Schweiz gibt es nur wenige, die Vergleichbares im Programm haben. Geführt haben Vera und Josef Karner übrigens nicht nur Schulklassen und Touristen, sondern auch das Ifo-Institut, die Bayerische Staatskanzlei oder den Bundesverband Mittelständische Wirtschaft. Ein „Abenteuer im Taschenformat" wollen sie vermitteln, das ein echtes Erlebnis in den Vordergrund stellt". Egal, ob sich die Kunden für die Entstehung von Bergen, Flüssen und Seen interessieren, ob sie Höhlen erforschen oder den Bergwald, die Fauna und das Wetter kennenlernen möchten - das Stärken der Erlebnisfähigkeit bedeutet den Karners sehr viel, der eigenen wie der ihrer Führungsteilnehmer.

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Wichtig ist den Karners auch die Teamarbeit der Teilnehmer. Wenn es um Steine geht, hat Vera Karner bemerkt, „kommt so etwas wie ein Schatzsuchertrieb zum Vorschein."  „Den Menschen macht es Freude, etwas mit den eigenen Händen zu tun", fügt Josef hinzu, „da entwickelt sich oft eine Gruppendynamik, die Leute lernen sich kennen, tauschen sich aus oder suchen zusammen." Außerdem, sagt er, „ist das Sammeln von Steinen naturverträglich, im Gegensatz zu den Pflanzen". Außerdem verwelkt so ein Stein nicht, schießt es einem da durch den Kopf, man kann ihn selber finden, „lesen" und dann nach Wunsch auch bearbeiten. So wird ein Stein „zu einem aktiven Erinnerungsstück", wie Josef Karner betont. Wer den Stein der Weisen sucht, findet ihn zu seinen Füßen. Das bekommt hier echte Bedeutung.

„Die Natur kann nur funktionieren, wenn man sie ganzheitlich sieht." Dasselbe gilt nach Karnerscher Meinung auch für den Tourismus und das touristische Angebot einer Urlaubsregion. Ganz gleich wo. „Der Geotourismus", sagt Josef Karner, „schreibt schwarze Zahlen." Trotzdem sei er vielerorts noch eine Lücke, die es für einen nachhaltigen und ökologisch verträglichen Tourismus zu füllen gelte. Was die Karners ihren Führungsteilnehmern wie den Besuchern ihres Museums nach Hause mitgeben möchten, ist ein Zugang zur Natur, der „jenseits eines Kommerzdrucks entschleunigt und vor allem Lebensfreude vermittelt". „Das Verständnis für die Natur", sagt Josef Karner, „ist bei fast allen Menschen da, es schläft vielleicht, aber es ist vorhanden." Auch das eigene Leben und seine Prioritäten haben die Karners über die 15 Jahre seit ihrer beruflichen Neuorientierung neu schätzen gelernt.

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Am Ende eines Tags mit den Karners mag sich das Gefühl einstellen, dass das Schlagwort „Ganzheitlichkeit" letztlich eine individuelle Erfahrung ist und sein darf. Eine Erfahrung, die jeder nach Gutdünken machen kann. Ohne Vorschrift und ohne Müssen. Um sie zu entdecken, braucht es oft nicht mehr als ein Öffnen der Sinne bei einem Spaziergang: Spüren, Riechen, Schmecken und Fühlen. Eine Erfahrung, die auch eine Rückkehr zu sich selbst und zur eigenen Wahrnehmung ermöglicht. Eine Rückkehr, die in vielerlei Hinsicht einträglich ist. Nicht nur für die Karners und nicht nur an der jungen Isar, die unter den Farben eines Wintersonnenuntergangs ganz unbeeindruckt von menschlichen Belangen vor sich hin gluckert.

Website: www.geo-trip.de

(Nikolaus Wiesner, Februar 2015)