Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Der Tanz des Lebens

Ein Gespräch mit Norbert Graf, einem der herausragendsten Tänzer Europas, über die Bedeutung von Kultur und Kreativität, Jugendarbeit und immateriellen Wohlstand

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©Sascha Kletzsch vergrößern

Welche Rolle spielt Kunst in Deutschland heute?
Da sollte man zwischen staatlichen und privaten Institutionen unterscheiden. Ich bin seit 25 Jahren in eine staatliche Institution eingebunden und glücklich, das sagen zu dürfen, weil es mir und meiner Familie Sicherheit gibt. Das lässt mich aber auch fragen, welche Legitimation die staatlich subventionierte Kunst hat. Wird genug getan, um die Summen, die dort hinein fließen, zu rechtfertigen? Ich möchte die Arbeit der Bayerischen Staatsoper und des Bayerischen Staatsballetts in diesem Zusammenhang positiv bewerten: Es wird viel getan, in alle Richtungen - sei es die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder mit Senioren. Musik, Tanz und Gesang werden nach außen getragen, es gibt dazu sehr viele Projekte jeglicher Couleur. Auch ich selbst war involviert in Kinder- und Jugendprojekte beim Staatsballett. Ich denke, staatliche Institutionen haben eine Berechtigung, für sich zu stehen, solange sie den Auftrag wahrnehmen, sich als Kulturträger für die Menschen und das Land zu engagieren.

Es gibt die Kritik, dass in staatlichen Theatern oft „Materialschlachten“ abgehalten werden, die Unsummen verschlingen.
Das liegt im Auge des Betrachters. Dass Materialschlachten stattfinden, teure Künstler eingekauft werden, manchmal bombastische Bühnenbilder hergestellt werden, die teilweise zu Shows ausarten, ist Tatsache. Für mich ist das bis zu einem gewissen Grad auch nachvollziehbar, da man im Gespräch bleiben muss. Das sind die zwei Seiten der Medaille: Man hat einerseits einen hehren Kulturauftrag, andererseits ist man gefordert, sich in Erinnerung zu halten. Letzteres ist auch wichtig hinsichtlich Sponsoren und Förderern, die sich und ihr Produkt gerne in der Öffentlichkeit sehen. Die Bayerische Staatsoper ist nach meinen Informationen das von privater Seite am stärksten geförderte Opernhaus in Deutschland - was nichts an der Tatsache ändert, dass es nach wie vor vom Staat betrieben werden muss. Sponsoring von privater Seite ist eine Erleichterung, die Oper und Ballett eine größere Bandbreite erlaubt. Trotzdem mag man sagen, dass zur Zeit viel auf Publizität und Effekt Wert gelegt wird - und dass dadurch das Eigentliche ein bisschen in den Hintergrund geraten ist. Über dieses Eigentliche aber lässt sich trefflich streiten, denn es ist eine subjektive Angelegenheit. 

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©WilfriedHšsl vergrößern

Was kann Kunst den Menschen mitgeben?
Ich persönlich möchte mich in erster Linie emotional angesprochen fühlen. Für mich ist das Vordringliche das, was ich sehe, was mich dann im Bauch trifft: Ich horche in mich hinein und habe eine Reaktion. Die mag auch negativ ausfallen, aber dann ist das so und vielleicht vom Künstler auch so gewollt. Das gefühlsmäßig Berührt-Werden ist das, was mich ein Werk „einsaugen“ lässt. Ich bin niemand, der Programmhefte wälzt oder sich erst intellektuell mit einem Maler beschäftigt, wenn er in eine Ausstellung geht. Ich möchte sehen und erleben. Inwieweit Kunst nachhaltig sein sollte, lässt sich schwer sagen, weil Kunst vielleicht gar nicht so sehr angelegt werden sollte, um Jahrhunderte zu überdauern. Sie sollte auch ein Spiegel der Zeit sein, im Hier und Jetzt die Menschen packen und im Idealfall irgendwohin führen: Kunst sollte nicht bevormunden, sondern Türen öffnen, Perspektiven geben, zum Nachdenken anregen. Wenn das ein Begriff von Nachhaltigkeit ist, dann unterschreibe ich ihn gerne. 

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Was macht der Tanz mit einem (jungen) Menschen, der sich auf ihn einlässt?
Ich hatte wunderbare Erlebnisse in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die mich immer begleiten werden: Ich habe mit Epileptikern gearbeitet, mit Leuten, die sich zunächst komplett verweigert haben. Ich habe mit jungen Leuten gearbeitet, die ein großes Aggressionspotential hatten. Zusammen mit meiner Assistentin habe ich es geschafft, diese jungen Leute zu integrieren, ihnen eine Perspektive aufzuzeigen, Verantwortung zu übertragen und Selbstvertrauen zu geben. Es klingt pathetisch, aber es ist die Wahrheit: Die jungen Leute haben Sicherheit und soziale Kompetenz gewonnen. Lehrer, die jahrelang mit diesen jungen Leuten gearbeitet haben, haben mir bestätigt, dass sie sich in den drei bis vier Wochen Probenzeit, die wir hatten, vollkommen geändert haben.

So etwas kann natürlich nicht nur der Tanz bewirken - das können viele Bereiche leisten, Sport, Gesang, Sprache, was auch immer. Man muss die Menschen erreichen: Kinder und Jugendliche müssen sehen, dass sie etwas schaffen können. Dass wir etwas schaffen können. Alle Aspekte der Jugendarbeit sind immens wichtig: Gemeinschaftliches Schaffen, für sich alleine arbeiten, Aufmerksamkeit füreinander, die Verantwortung im Miteinander. Ich weiß, dass sich die Kulturschaffenden um mehr Kunst- und Musikunterricht, die Sportlehrer um mehr Sportunterricht bemühen - wir haben eine Leistungsgesellschaft, die Schulzeit wurde verkürzt, es ist für die Lehrer schon fast ein Ding der Unmöglichkeit, den geforderten Stoff in der Kürze der Zeit zu vermitteln. Da bleibt wenig Zeit für solche Projekte. Aber es ist von größter Bedeutung, die Jugendlichen anzuleiten, sich selbst zu entdecken. Ich habe die Resultate gesehen und weiß, wovon ich spreche.

Ist man überhaupt jemals zu alt, um sich über eine künstlerische oder kreative Betätigung zu entdecken und weiterzuentwickeln?
Nein, man ist nie zu alt. Wir haben ja auch Seniorenprojekte beim Staatsballett, und die Leute saugen das auf. Es gibt ihnen völlig neue Perspektiven, intellektuell wie physisch. Das ist das Schöne an der Kunst - es ist nicht nur reines Training, es ist nicht nur Laufen oder ein Gewicht vor- und zurückschieben, es ist auch ein intellektuelles Erfassen dessen, was man macht: Sich kontrollieren, es richtig machen - und dann natürlich der Schritt ins Interpretatorische. Das ist auch die Bandbreite, die mich immer am Tanz fasziniert hat - die physische Komponente, die einher geht mit einer intellektuellen Erfassung. 

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Das heißt, eine künstlerisch-kreative Betätigung, auch als Hobby, allein oder mit anderen, wirkt sich im besten Sinn positiv auf die Persönlichkeit eines Menschen aus?
Absolut. Und nicht nur das - sie ist auch für die soziale Kompetenz gut. Egal ob im Alter oder in der Jugend. Ich fand es auch richtig und wichtig, dass für unsere Jugendprojekte die Leute „zwangsrekrutiert“ wurden. Da wurde nicht gefragt „Hast Du Lust“ oder so - nein, die komplette Jahrgangsstufe Acht ist zu mir in den Ballettsaal gekommen, und ich habe zu ihnen gesagt: „Jungs, Mädels, jetzt machen wir mal“. Ich habe versucht, immer positiv zu helfen und zu unterstützen, Anschübe zu geben, und das hat sich als richtig erwiesen. Mit Druck, aber ohne Zeigefinger. Es ist natürlich auch eine Frage der eigenen Balance, aber nach meiner Erfahrung holt ein positiver Druck das Beste aus den Menschen heraus. Dass künstlerisch-kreative Betätigung eine Glücks- und Befriedigungsquelle ist, geht im globalen Wettbewerb unter, in den Institutionen, die das „Schneller, höher, weiter“ propagieren.

Und wenn jemand das „Schneller, höher, weiter“ in dieser Form nicht mehr mitmachen möchte?
Es gibt alles heutzutage. Das Internet legt dir alles auf den Tisch. Alles, was du dir je vorgestellt hast. Auch das, was du dir nicht vorgestellt hast, was nicht vorstellbar war, ist im Internet. Deswegen ist jeder persönlich dazu angehalten sich zu fragen „Was möchte ich? Was macht mir Freude?“ Jeder Mensch sollte in seinem Leben ständig Dinge hinterfragen. Ich habe drei Kinder - in der Krippe, im Kindergarten, in der Schule. Es gibt die Angebote, die Interessen wecken, die Kommunikation wecken, die Ideen wecken. Es ist nicht so, dass wir alle wie abgerichtete Hühner auf irgendwelchen Laufstegen transportiert und in Boxen geschoben werden. In der Hinsicht schätze ich mich glücklich, in Deutschland zu sein, weil es durchaus Angebote gibt, die Kindern und jungen Menschen Perspektiven und Möglichkeiten aufzeigen. Das empfinde ich als positiv. Die Politik, von der diese Initiativen für Kinder und Jugendliche ausgehen, ist allerdings sehr interessengebunden, so dass neue Denkweisen nur bedingt zum Tragen kommen.

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©Day Kol vergrößern

Was ist in Zeiten zurückgehender materieller Möglichkeiten und starker Umwälzungen nötig, um eine lebenswerte Zukunft zu gestalten?
Irgendjemand hat mal gesagt: „Demokratie ist das kleinste Übel aller möglichen Regierungsformen“. Demokratie führt allerdings auch zur berühmten „normativen Kraft des Faktischen“. Soll heißen, jeder Politiker kann nur soweit gehen, wie ihn sein Wahlkreis, sein Regierungschef oder seine Lobbyisten gehen lassen. Es ist in unserer Zeit leider kein Platz für Visionen. Wir sind Getriebene, und das lässt eine Gesellschaft mit menschlichen Maßstäben noch nicht zu. Unter anderem aufgrund einer ganz einfachen Regel: Man kann so lange großzügig sein und Dinge für andere tun, bis es ans eigene Portemonnaie geht. Das Portemonnaie steht dabei für alles, was im persönlichen Leben stattfindet, hauptsächlich aber natürlich für das Portemonnaie selbst. Das heißt, Egoismus regiert die Welt. Mein Teil, um dieser Strömung wenn nicht entgegenzuwirken, so doch andere Aspekte abzugewinnen, beginnt und endet immer bei mir selber. Und da schließt sich der Kreis hin zu der Frage, was kann der Künstler, was kann der Mensch Norbert Graf tun, um diese Gesellschaft lebenswerter zu machen. Eine Gesellschaft wie bei „Star Trek“, in der alle materiellen Notwendigkeiten bereitgestellt sind, wäre interessant. Das werden wir in absehbarer Zeit aber nicht haben. Ich kann nur wiederholen, dass man die Welt ein Stückchen besser macht, indem man bei sich selbst anfängt. Und das will und werde ich meinen Kindern vermitteln. Ich bin der festen Überzeugung, das wir es vom Kleinen ins Große tragen können - sonst hätte ich meine Kinder nicht.

Das Gespräch führte Nikolaus Wiesner, November 2015