Erfüllter leben


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Musik für die Ewigkeit?

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©Omar Bandinu vergrößern

Sardinien wird jedes Jahr von bis zu zehn Millionen Touristen besucht, meist wegen seines Meers und seiner Landschaft. Doch die Insel besitzt auch andere Schätze, darunter eine uralte Musiktradition, die so nur noch in der Mongolei und der angrenzenden russischen Republik Tuva vorkommt. Bitti, eine Kleinstadt im sardischen Inland unweit von Nuoro, ist die Heimat einer Sängergruppe, die diese Musiktradition international bekannt gemacht hat: Die Tenores di Bitti Mialinu Pira haben in ganz Europa, in Japan, Brasilien oder Abu Dhabi gastiert, beim Weihnachtskonzert im Vatikan und in der Geburtskirche in Bethlehem. 

Die Ursprünge des beeindruckenden mehrstimmigen Kehlgesangs des Canto a Tenore gehen möglicherweise bis auf die bronzezeitliche Nuraghenkultur zurück. Manche sagen, die Stimmen seien nichts anderes als eine musikalische Versinnbildlichung der Natur, mit der die Menschen dort seit Urzeiten lebten: Das Muhen der Kühe, das Blöken der Schafe und das Rauschen des Windes. Auch wenn das musikwissenschaftlich natürlich nicht haltbar ist, wirken die zwischen Bass und hohem Tenor liegenden Stimmen und ihr Harmoniegesang archaisch, poetisch und im wahrsten Sinn des Wortes profund: „Der Mensch hat eigentlich nichts anderes getan als die Natur über die Kunst zu sublimieren, und die Musik hat ihm geholfen, das auszudrücken, was über Worte hinausgeht - die überwältigende Schönheit der Welt und die Unmöglichkeit, sie ganz zu verstehen“, sagt Omar Bandinu, Bass und Bandleader der Tenores di Bitti Mialinu Pira.

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Der Canto a Tenore erlebt seit den Neunziger Jahren und besonders seit der Aufnahme ins immaterielle Welterbe der UNESCO einen neuen Frühling. Und noch immer hat fast jedes Dorf, in dem der Canto praktiziert wird, seine ganz eigene Ausprägung in Musik und Text. In jedem Dorf ist der Canto ein anderer, genauso wie der Dialekt - eine Identitätsstiftung, die im sardischen Inland bis heute wichtig ist.

Mittlerweile gibt es mehrere Profigruppen, die auch im Ausland auftreten. Omar Bandinu weist nicht ohne Stolz auf junge Sängergruppen hin, die sich mit einem Recorder auf den Weg machen, alte Aufnahmen suchen und sie dann auf YouTube oder in die social media hochladen. „Unsere mündlich überlieferte Musiktradition spielt noch heute eine entscheidende Rolle in der sardischen Gesellschaft - sie transportiert Verhaltensweisen, Symbole und soziale Werte. Überlieferung und Innovation spielen zusammen, das macht sie auch zum Ausdruck des heutigen Menschen. Gerade bei unseren Dorffesten, die oft mehrere Tage dauern und alle sozialen Schichten versammeln, haben Musik und Tanz eine enorme Bedeutung.“ Trotzdem, warnt Bandinu, „müssen viele das Bewusstsein für den Canto und seine Einzigartigkeit behalten, damit am Ende nicht nur ein paar Spezialisten das jahrtausendealte Wissen einer ganzen Kulturgemeinschaft bewahren.“

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Die Tenores di Bitti Mialinu Pira haben sehr viel dazu beigetragen, eine der ältesten und faszinierendsten Musiktraditionen Europas neu zu beleben. Omar Bandinu, Marco Serra, Bachisio Pira und Arcangelo Pittudu bemühen sich darum, „das neue Bewusstsein der Sarden für die eigene Kultur“ weiterzutragen. „Eine Aufgabe, die viel Verantwortung mit sich bringt, aber auch ein Grund ist, stolz zu sein“, wie Bandinu bemerkt. Tradition, sagt er, „muss sich wandeln, wenn sie überdauern will. Viele behaupten irrigerweise, dass unser Canto a Tenore seit Jahrhunderten etwas Unveränderliches ist. Ganz allgemein sieht man Tradition und Überlieferung gern so. Tatsächlich aber ist der Canto etwas Dynamisches, bei dem Überlieferung und Erneuerung Hand in Hand gehen. Weil der Gesang Ausdruck des Menschen ist, hat er sich im Lauf der Zeit mit ihm entwickelt und den Zeitumständen angepasst. Dadurch ist er lebendig geblieben. Was sich nicht verändert, ist tot. Wir leben unsere Musik mit Spaß und Natürlichkeit, es macht Freude, mit den Stimmen zu experimentieren, etwas auszuprobieren, ohne die kulturelle Identität zu verlieren.“

Nur konsequent also, dass Musik und Kunst für Omar Bandinu etwas sind, das nicht hoch genug geschätzt werden kann: „Ich denke oft über die Einzigartigkeit jedes Menschen nach. Jeder besitzt einen Schatz, eine Bibliothek an Gedanken und Erfahrungen, er ist potentiell unendlich. Kunst und Musik helfen uns, unser privilegiertes Dasein auf der Erde zu verstehen. Jeder Mensch trägt etwas Besonderes in sich, einen Zauber, und die Kunst hilft uns, diesen Zauber zu vermitteln. Wir brauchen Zauber und Wunder, um gut zu leben.“ Der sardische Canto a Tenore ist so ein Wunder.

Tenores di Bitti (ital. und engl.)

(Nikolaus Wiesner, April 2016)