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Wachstum oder Nachhaltigkeit - Die Ökonomie am Scheideweg

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"Zögernd, weil gegen Widerwillen breitet sich die Erkenntnis aus, dass das Streben nach Wirtschaftswachstum die Nachhaltige Entwicklung verhindern wird. Beide sind Gegensätze, deren Unvereinbarkeit in diesen Jahren zunehmend - und hoffentlich noch nicht zu spät - für alle sichtbar wird, die Augen haben, zu sehen.

Damit muss auch die Einsicht in die ethischen Vorentscheidungen der Ökonomie zunehmen, denn das Fehlen dieser Einsicht war mitschuldig daran, dass der Gegensatz so lange nicht erkannt wurde. Es ist eine ethische Frage, ob die Wirtschaft in die Erhaltung der naturgegebenen Güter - wie Artenvielfalt, Bodenfruchtbarkeit, Fischreichtum, Klimasystem, Luft- und Wasserreinheit, Rohstoffvorräte - reinvestiert oder ob sie wie bisher die Kosten dafür spart, den kurzfristigen Gewinn maximiert und die Substanz verzehrt. Es ist eine ethische Entscheidung, ob die Wirtschaftstheorie wie bisher allein das Privateigentum oder auch das Gemeineigentum an den naturgegebenen Gütern schutzwürdig findet, und ob sie sich wie bisher allein auf die eigennützigen oder auch auf die sozialen Motive des Menschen verlässt.

Es ist die Bejahung und Bestärkung einer sozialen Norm, dass die Ökonomie bisher ihren Gegenstand als die permanente Beseitigung der Güterknappheit definiert, denn damit betrachtet sie das Vorauseilen der Wünsche vor den Mitteln als unveränderliches Gesetz des menschlichen Verhaltens und klammert das Gleichgewicht zwischen Wünschen und Mitteln aus ihren Betrachtungen aus, obwohl es in der Geschichte der Menschheit lange Zeit tragend war und zur Sicherung ihrer Zukunft unabdingbar sein wird.

Und es liegt eine ethische Vorentscheidung zugrunde, wenn eine ganze Disziplin sich bisher auf die Unersättlichkeit der Bedürfnisse festlegt und davon absieht, dem maßvollen Handeln die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen. Die Abstinenz wird damit begründet, dass es ein einseitig wertender Eingriff in die Freiheit des Menschen sei, beispielsweise untersuchen zu wollen, wieweit die Konsumenten durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel - also letztlich durch Kauf und Nutzung von zu vielen schädlich wirkenden Gütern - sowohl sich selbst schaden als auch die Kosten des Gesundheitssystems in die Höhe treiben.

Doch ist es eine ebenso einseitige Wertung, die vollzogene Kaufentscheidung ungeprüft als Beweis dafür zu nehmen, dass der Käufer sich voll informiert und in eigener Verantwortung gemäß seinen Bedürfnissen entschieden und das selbst zu vertreten hat. Der Glaube an die Wertfreiheit der eigenen Vorentscheidungen hat fatale Folgen; er führt dazu, dass die Wirtschaftswissenschaft diejenige Fehlleitung der Ressourcen, die aus ihren Vorentscheidungen erwächst, gar nicht erkennen kann.

Diese Fragen haben den Sozialökonomen Gerhard Scherhorn ein Forscherleben lang bewegt, in der Beschäftigung mit dem Konsum und der Verbraucherpolitik, in der Frage nach der Funktionsfähigkeit von Märkten, in dem Engagement für nachhaltige Geldanlage und nachhaltige Entwicklung, in den Untersuchungen zur Finanzkrise. Die hier zu seinem 80. Geburtstag gesammelten Aufsätze verbindet die Erkenntnis, dass die Zukunftsfähigkeit der Menschheit von der Ökonomie ein anderes Menschenbild, eine andere Vorstellung von den Bedürfnissen, vom Kaufen und Arbeiten, von den Gemeingütern und vom Wirtschaftswachstum fordert; dass diese Veränderungen eine Öffnung der Ökonomie für transdisziplinäre Kooperation mit den anderen Wissenschaften erfordern; und dass sie allesamt schon auf den Weg gebracht wurden, jetzt aber kräftigen Rückenwind brauchen."

Quelle: Vorwort von Johannes Hoffmann, Wuppertal Institut/Altius Verlag