Zukunft gestalten


Kulturelle Verarmung und gesellschaftlicher Zerfall

Damit die westlichen Gesellschaften auch bei sinkendem materiellem Wohlstand funktionsfähige, demokratisch regierte Gemeinwesen bleiben, müssen die Menschen erkennen, dass eine weitgehend auf materielle Wohlstandsmehrung fokussierte Kultur eine arme Kultur ist. Gegenwärtig stehen sämtliche Erscheinungsformen der Kultur wie Bildung und Wissenschaft, Politik und Recht, Kunst und Sport, Kommunen und selbst die Familie im Dienste des einen großen Wachstumsziels. Ihr Eigenwert ist demgegenüber nachrangig. Dies führt jedoch dazu, dass sie wichtige gesellschaftliche Funktionen nicht oder nur noch eingeschränkt erfüllen können. Beispiele hierfür sind:

Bildung
Die Schule vermittelt heute vor allem Lerninhalte, die auf das Wirtschafts- und Arbeitsleben vorbereiten sollen. Rechnen, Computer, Internet oder neue Medien gehören nach Meinung der meisten deutschen Lehrer zu den wichtigsten Schulfächern.

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Vermittlung von Allgemeinwissen  vergrößern

Hingegen landen Sport, Literatur, Ethik, Religion, Philosophie, Kunst und Musik nur auf hinteren Rängen. Als Folge der Konzentration auf „praktisch Verwertbares“ verringern sich die sozialen, kognitiven, körperlichen und kreativen Fähig- und Fertigkeiten vieler Schüler. Folglich beklagen 56 Prozent der deutschen Ausbildungsbetriebe deren mangelhaftes Ausdrucksvermögen, 50 Prozent die geringe Motivation, 45 Prozent die fehlende Disziplin, 43 Prozent die geringe Belastbarkeit, 39 Prozent die schlechten Umgangsformen und 30 Prozent das insgesamt fehlende Interesse.1

Wissenschaft
Auch in der Wissenschaft hat eine Fokussierung auf "praktisch Verwertbares" stattgefunden. So sind von den in den ersten beiden Runden der deutschen "Exzellenzinitiative" ausgezeichneten 39 Graduiertenschulen nur neun geisteswissenschaftlich orientiert, von den 37 Exzellenzclustern sogar nur sechs.2 Von 1995 bis 2005 ging die Zahl der Professuren in geisteswissenschaftlichen Fächern um knapp 12 Prozent zurück, wohingegen die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einen Zuwachs von 5,6 Prozent verzeichneten.3 Ohne eine intensive geisteswissenschaftliche Forschung können die Universitäten jedoch keinen Beitrag zur Lösung aktueller und künftiger gesellschaftlicher Herausforderungen leisten.

Sport
Im Sport verdrängen kommerzielle Interessen zunehmend gemeinnützige und soziale Ziele. Viele Sportvereine haben sich zu umsatzstarken Wirtschaftsunternehmen gewandelt. Fußballclubs wie Manchester United, AS Roma oder Borussia Dortmund sind börsennotierte Aktiengesellschaften. Nahezu vollständig kommerzialisiert sind auch die Olympischen Spiele. Die Einnahmen des Internationalen Olympischen Commitees stammen mittlerweile vornehmlich aus der Vermarktung von TV- und Hörfunkrechten sowie Sponsorenverträgen. Im Zyklus 2005 bis 2008 beliefen sie sich auf rund 4,5 Milliarden US-Dollar. Für den aktuellen Zyklus werden mehr als fünf Milliarden angestrebt.4 Wer angesichts dessen von "Sport im Sinne von mitmachen ist wichtiger als siegen, von völkerverbindendem Tun oder von gesundem Geist in gesundem Körper sprechen möchte, läuft die Gefahr, sich lächerlich zu machen".5

Kommune
Auch Kommunen verstehen sich zunehmend als Quasi-Wirtschaftsunternehmen. Öffentliche Dienstleistungen werden zu Produkten und die Bürger zu Kunden. Letztere verhalten sich wie ebensolche und sind abnehmend bereit, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Die kommunalen Ämter werden als Profit Center mit dezentraler Ressourcenverantwortlichkeit geführt. Das erhöht ihre Rentabilität, trägt aber zugleich dazu bei, dass vormalige gesellschaftliche Integrationsleistungen nicht mehr erbracht werden. Grünflächenämter beispielsweise beschäftigten früher häufig Schulabgänger aus Sonderschulen. Im Zuge ihrer Kommerzialisierung ist das für Kommunen nicht mehr rentabel. Die Folge: benachteiligte Jugendliche stehen auf der Straße und verursachen dem Gemeinwesen Kosten an anderer Stelle.6

Familie
Nicht zuletzt weil sie bestrebt sind, den Anforderungen des modernen Wirtschafts- und Arbeitslebens gerecht zu werden, zerbrechen immer mehr Familien. In Deutschland wird jede dritte Ehe im Lauf der Zeit geschieden. Jedes siebte Kind wächst bei nur einem Elternteil auf,4 58 Prozent der 15-Jährigen führen nur selten Gespräche mit ihren Eltern. Trennung und Scheidung sind nach Arbeitslosigkeit die häufigsten Gründe für die Überschuldung von Privatpersonen sowie zwischen 1996 und 2006 zu knapp einem Fünftel für die Zunahme einkommensschwacher Kinder verantwortlich.8

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Wachstum vs. Lebenszufriedenheit  vergrößern

Auf diese Weise untergräbt die Fokussierung auf materielle Wohlstandsmehrung das gesellschaftliche Fundament. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, Vereinsamung, Wohlstandsverwahrlosung und Zivilisationskrankheiten nehmen zu. Der durch die Kommerzialisierung aller Bereiche der Kultur steigende materielle Lebensstandard erhöht nicht mehr das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Menschen.

Quellenangaben

1 Vgl. DIHK-Ausbildung 2009 - Ergebnisse einer Online-Unternehmensbefragung (2009), S. 21

2 Vgl. Jörg-Dieter Gauger und Günther Rüther (31. Jan. 2008), Bildung ohne Zukunft? Zur Lage der Geisteswissenschaften, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 

3 Nach einer Auswertung der Hochschulstatistik 2007 durch den Deutschen Hochschulverband

4 Vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung (5. Aug. 2008), China Dossier von Jens Weinreich "Die Olympischen Sommerspiele in Peking" 

5 Prof. Werner R. Müller, Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre Uni Basel. Ausgabe der Basler Zeitung vom 17. Jan. 1997. "Die Zukunft gestalten - mit dem Homo oeconomicus?"

6 Vgl. Referat von Prof. Dr. Heinrich Mäding am 10. Okt. 2008 bei Gründungssymposium des Denkwerk Zukunft 

7Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland, Datenreport 2008: Der Sozialbericht für Deutschland, S. 33-36

8Vgl. Miegel, M./Wahl, S./Schulte, M. (2008), Von Verlierern und Gewinnern – Die Einkommensentwicklung ausgewählter Bevölkerungsgruppen in Deutschland, Juni, Bonn, S. 56ff.